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Kinderlähmung: Wie gefährlich Polioviren in Deutschlands Abwasser sind

Das Poliovirus ist weltweit fast ausgerottet – und wurde jetzt im Abwasser deutscher Städte nachgewiesen. Das ist die paradoxe Folge des beinahe kompletten Sieges über die Kinderlähmung.
Zwei Hände mit Laborhandschuhen beim Nehmen einer Wasserprobe.
Virusuntersuchungen im Abwasser können wertvolle Hinweise auf zirkulierende Krankheitserreger geben. Bei Polio dienen sie als Frühwarnsystem.

Dass jetzt auch in Deutschland Genspuren von Polioviren, den Auslösern der Kinderlähmung, im Abwasser mehrerer Städte aufgetaucht sind, kommt für Fachleute nicht völlig überraschend. In manchen Teilen der Welt feiert die beinahe ausgerottete Seuche ein erstaunliches Comeback. Immer wieder taucht der Erreger auch in Industrieländern auf, zuletzt in Spanien und Polen, bereits 2022 meldete London Polio im Abwasser. Die Ursache des Problems liegt tatsächlich in der außerordentlich erfolgreichen Bekämpfung des Virus – und den Besonderheiten der Impfstoffe, auf denen dieser Erfolg basiert. Denn die Viren, die jetzt in München, Bonn, Köln, Hamburg, Dresden, Düsseldorf und Mainz aufgetaucht sind, stammen vom Impfstoff ab.

Die Kinderlähmung war noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine der gefürchtetsten Infektionskrankheiten der Welt. Hunderttausende Menschen weltweit erlitten jedes Jahr die charakteristischen Lähmungen, in Deutschland starben noch 1952 rund 9000 Menschen an der Krankheit. Die Impfungen, in den 1950er Jahren von Jonas Salk und Albert Sabin entwickelt, brachten die Trendwende. Binnen weniger Jahrzehnte war das Virus in vielen Ländern der Welt völlig verschwunden.

Die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung, auf der dieser Erfolg fußt, hat eine Reihe von Vorteilen. Sie ist einfach zu handhaben und zu verabreichen und macht sehr effektiv immun. Doch sie hat einen Nachteil, der auch hinter den Virenfunden in Deutschland steckt. Sie ist ein Lebendimpfstoff – ein voll funktionsfähiges Virus, das durch eine Reihe von Mutationen so abgeschwächt ist, dass es Menschen nicht mehr krank macht und sich auch nicht effektiv verbreitet. Allerdings kann es diese schwächenden Mutationen auch wieder verlieren und sich dann unter Menschen ausbreiten. Es sind solche Viren, die immer wieder auch in Industrieländern entdeckt werden.

Keine Gefahr für die Bevölkerung

In Deutschland wurde die Schluckimpfung aus diesem Grund 1998 abgeschafft und seitdem mit einem weniger effektiven, aber nicht mehr verbreitungsfähigen inaktivierten Virus geimpft. Die im Abwasser in Deutschland entdeckten Viren kommen deswegen aus anderen Ländern, in denen die Schluckimpfung noch genutzt wird. Woher genau, ist unklar. Wegen des starken internationalen Reiseverkehrs können Polioviren von überall auf der Welt schnell nach Deutschland gelangen. Dass das passiert ist, stellt jedoch erst einmal keine direkte Gefahr für die Bevölkerung dar.

»Der alleinige Nachweis von Poliovirus-Genomabschnitten im Abwasser sagt nichts darüber aus, ob es sich um vermehrungsfähige und somit um infektiöse Viren handelt«, erklärt Rainer Gosert vom Universitätsspital Basel gegenüber dem Science Media Center Deutschland. Es sei unwahrscheinlich, dass in Deutschland nun Impfpoliofälle auftreten. »Die Impfquote in Deutschland für drei Impfstoffdosen im Alter von 15 Monaten liegt bei gut 90 Prozent, allerdings gibt es deutliche Schwankungen zwischen den Bundesländern.« Es sei sicherlich gut, wenn die Bevölkerung den Nachweis der Viren zum Anlass nehme, ihren Impfstatus zu überprüfen, fügt der Forscher hinzu.

Die Träger der Viren aufzuspüren, ist schwierig. Mehr als 95 Prozent der Infizierten haben gar keine Symptome oder merken einen leichten grippeartigen Infekt. Nur bei knapp einem Prozent der Infizierten tritt die typische Lähmung auf. Deswegen können Infizierte unerkannt überall auftauchen. Die Funde im Abwasser in Deutschland und anderen Ländern zeigten vor allem, dass die Frühwarnsysteme funktionieren, sagt Gosert.

Die Zahl der betroffenen Städte könnte darauf hindeuten, dass das Virus nicht bloß von außen eingetragen wurde, sondern in Deutschland selbst zirkuliert. Das allerdings ist nur schwer einzuschätzen – denn die Abwasserdaten erlauben keine Schlussfolgerungen darüber, wie viele Menschen das Virus in sich tragen. Während die Impfquote in der Bevölkerung insgesamt hoch genug ist, dass sich der Erreger nicht verbreiten kann, liegt die Impfquote bei Schulkindern seit Jahren unter den empfohlenen 95 Prozent. Zusätzlich ist sie in manchen Regionen und Bevölkerungsgruppen noch niedriger, und auch Geflüchtete aus Krisenregionen sind teilweise nicht ausreichend geimpft. So erscheint es möglich, dass die Krankheit mit den typischen Lähmungen auch in Deutschland wieder auftauchen könnte.

Das Kuriose an der Situation ist, dass Polio in freier Wildbahn nahezu ausgerottet ist. Lediglich in Afghanistan und Pakistan taucht das ursprüngliche Poliovirus noch auf. Deswegen ist es paradoxerweise nun die Impfung selbst, die das Virus weltweit zurückbringen könnte. Denn das Virus im Lebendimpfstoff ist weiterhin ansteckend, und auch Geimpfte scheiden das Virus noch eine ganze Zeit lang aus. Das ist in gewisser Weise sogar ein Vorteil, denn so werden Familienmitglieder unter Umständen quasi gleich mitgeimpft.

Warum ein ausgerottetes Virus zurückkehrt

Zwei Faktoren allerdings machen diese Besonderheit zum Problem. Einerseits kann die Abschwächung des Virus prinzipiell rückgängig gemacht werden, denn es sind nur wenige Mutationen, die den Unterschied machen. Und andererseits kann das Virus von Mensch zu Mensch springen und dabei die abschwächenden Mutationen nach und nach verlieren. Das ist extrem selten. Der Polioimpfstoff wird aber weltweit in so großen Mengen verabreicht, dass diese seltenen Fälle immer wieder auftauchten. Solange stets genug Menschen geimpft sind, verschwinden sie jedoch schnell wieder.

Die Gefahr dabei zeigte sich 2016. Es gibt drei Typen des Poliovirus. Einer von ihnen, Typ 2, war 2015 endgültig ausgelöscht worden. Deswegen beschloss die WHO, Typ 2 aus dem Lebendimpfstoff zu entfernen, damit auch die vom Impfvirus abstammenden Varianten dieses Typs verschwinden. Doch es kam anders. Die Umstellung klappte nicht, plötzlich gab es sehr viele Menschen, die gegen Typ 2 nicht mehr geimpft waren. Das von der nach wie vor verwendeten Schluckimpfung abstammende Virus begann wegen der abnehmenden Immunität stärker zu zirkulieren – besonders in Regionen mit geringerer Impfquote.

Inzwischen gibt es einen Ausweg aus diesem Teufelskreis. Neue abgeschwächte Lebendimpfstoffe sind genetisch so verändert, dass sie sich nicht zum gefährlichen Virus zurückentwickeln können. Sie könnten womöglich die Probleme der internationalen Impfkampagne lösen und Polio tatsächlich weltweit ausrotten. Doch bis dahin bleibt Polio auch in den Industrieländern eine potenzielle Gefahr – insbesondere angesichts sinkender Impfbereitschaft.

Zusammen mit steigender internationaler Mobilität bedeutet das, dass das Virus überall ohne Vorwarnung auftauchen kann. 2022 verbreitete es sich in den USA so stark, dass in New York der Notstand ausgerufen werden musste. Ein junger Mann erkrankte dort sogar schwer. Solche Fälle verdeutlichen die tatsächliche Bedeutung des Virenfundes im Abwasser deutscher Städte: Polio ist aus Deutschland und vielen anderen Ländern bisher verschwunden. Aber es ist nicht weg. Wenn die Impfquoten weiter sinken, dann ist die Kinderlähmung womöglich ganz schnell wieder zurück in Deutschland.

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