Reproduktionszahl: Warum es noch keinen neuen Corona-Lockdown gibt
Wollen wir sicher sein, muss R unter 1 liegen. So lautete die Devise. Denn R beschreibt, wie viele andere Menschen eine infizierte Person im Durchschnitt ansteckt. Unter 1 bedeutet, das neue Coronavirus Sars-CoV-2 breitet sich nicht weiter aus. Das Gute: Seit Mitte April war der Wert gegeben, von ein paar kleinen Ausreißern abgesehen. Entsprechend zurückgegangen war auch die Zahl der neuen Covid-19-Fälle, vom Maximum um 5500 am 16.3. auf das vorläufige Minimum von nur 171 am 7.6., wie die Tageszahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigen.
Das Besorgnis erregende: In den vergangenen Tagen ist R wieder in die Höhe geschossen. Im RKI-Lagebericht am Samstag lag die Zahl zwischen 1,55 und 1,79. Am Sonntag dann lag sie bei 2,88 beziehungsweise 2,03. Und trotzdem gibt es keinen erneuten Lockdown – wieso?
Nun, für die Einschätzung des Infektionsgeschehens ist R allein wenig aussagekräftig. Tatsächlich bedeuten die hohen Zahlen vor dem Hintergrund der aktuellen Lage etwas anderes als auf dem Höhepunkt der Epidemie. Denn momentan sorgen vor allem kleine lokale Ausbrüche für eine große Wirkung. Wer das genau verstehen will, sollte zuerst wissen, wie die Werte für R überhaupt zu Stande kommen.
Entscheidend für das Infektionsgeschehen ist das Infektionsdatum
Grundsätzlich beziehen sich die vom RKI veröffentlichten R-Werte nicht auf das Datum der Veröffentlichung. Das liegt daran, dass die Landesgesundheitsämter neue Infektionszahlen verzögert melden. Zwischen Diagnose und Meldung vergehen oft mehrere Tage, zum Beispiel wegen dazwischen liegender Wochenenden, aber auch auf Grund immer wieder auftretenden Computerproblemen bei den Ämtern. Deshalb nutzt das RKI für seine Schätzung der Reproduktionszahl die Daten der jeweils letzten drei Tage nicht. Die im Lagebericht vom 21.6. veröffentlichten R-Werte beziehen sich zum Beispiel auf die Zahlen, die bis einschließlich 17.6. beim RKI eingegangen sind.
Doch auch diese Zahlen werden nicht zur Schätzung von R genutzt. Entscheidend für die Modellierung des Infektionsgeschehens ist ja nicht das Meldedatum, sondern das Infektionsdatum. Da dies meist nicht bekannt ist, nutzt das RKI ersatzweise das Erkrankungsdatum (Datum des Symptombeginns). Wo dies in den gemeldeten Daten nicht angegeben ist, zum Beispiel weil jemand asymptomatisch getestet wurde, schätzen die Statistiker und Statistikerinnen des RKI das Erkrankungsdatum aus den bisher bekannten Meldeverzügen, in einer so genannten multiplen Imputation. Zuletzt werden in einem »Nowcasting« aus den gemeldeten und imputierten Erkrankungsdaten noch solche Fälle eingerechnet, die bisher nicht gemeldet sind, wahrscheinlich aber noch gemeldet werden. Wie genau Imputation und Nowcasting funktionieren, erklärt das Epidemiologische Bulletin Nr. 17 des RKI.
Erst aus den so aufbereiteten Daten ermittelt das RKI täglich zwei Reproduktionszahlen R: einen sensitiven und einen stabilen R-Wert. Sie unterscheiden sich lediglich darin, über wie viele Tage die Werte für Erkrankungszahlen gemittelt werden, die in die Berechnung von R eingehen. Der Vier-Tage-Wert etwa beruht dabei auf der Annahme, dass das serielle Intervall, also die mittlere Zeit zwischen einer Erkrankung und einer davon erzeugten, vier Tage beträgt.
Da der Vier-Tage-R-Wert von Beginn an recht stark schwankte, was in den Medien und in der Bevölkerung viel Verwirrung erzeugte, veröffentlicht das RKI seit Mitte Mai zusätzlich einen Sieben-Tage-R-Wert. Der unterscheidet sich lediglich in der Größe der beiden Zeiträume, aus deren summierten Erkrankungszahlen der R-Wert gebildet wird. So sollen kurzfristige Schwankungen von R geglättet werden und ein klareres Bild der Gesamtentwicklung entstehen. Entsprechend weiter zurück liegen dann natürlich die Infektionsgeschehen, die in diesen stabilen R-Wert eingehen.
Kleine Ausbrüche zeigen große Wirkung – sind aber kontrollierbar
Woran liegt es also, dass R nun über 2 liegt? An den lokalen Ausbrüchen in den Landkreisen Gütersloh und Warendorf sowie den Stadtkreisen Magdeburg und Neukölln. So haben sich mindestens 1300 Mitarbeiter der Fleischfabrik Tönnies in Gütersloh mit Sars-CoV-2 angesteckt. Die meisten der Mitarbeiter leben in Gemeinschaftsunterkünften in Gütersloh und Warendorf. Hinzu kommt ein Ausbruch in einem Wohnblock in Berlin-Neukölln mit bisher 94 Neuinfektionen. Auch in Magdeburg hatten sich während der vergangenen Tage mehr als 80 Menschen mehrerer Wohnblöcke infiziert.
Die Situation ist also eine ganz andere als Mitte März: Zum einen wirken sich die lokalen Neuinfektionen deutlich auf die Reproduktionszahl aus, weil die Gesamtzahl so gering ist. Zum anderen sind solche lokalen Ausbrüche mit höherer Wahrscheinlichkeit nachvollziehbar und damit kontrollierbar. Entsprechend schnell könnte R dann wieder unter 1 sinken. Ein neuer bundesweiter Lockdown ist daher nicht nötig – vorerst. Denn einmal mehr hat Sars-Cov-2 bewiesen: Es verbreitet sich schnell, wenn man es lässt.
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