Familie: Alleinerziehend und alleingelassen
Das Schlimmste ist das Home Schooling. Die Arbeitsblätter von der Schule kommen per Mail, danach sind Ute Durchholz und ihr Sohn auf sich gestellt. Zwei Stunden Schulaufgaben am Tag seien möglich, bis der Achtjährige, der eine Rechenschwäche hat, die Motivation verliert. Damit bleibt die Mutter dann genauso allein wie mit der Frage, wie sie nebenher noch ihren Job im Home Office und den Haushalt bewältigen soll. »Als Alleinerziehende fühlt es sich immer an, als wäre die Bettdecke zu kurz«, sagt Durchholz. »Irgendwas guckt immer raus, und das ist unangenehm: Kümmere ich mich mehr um meinen Sohn und reduziere die Arbeit, habe ich weniger Geld. Arbeite ich mehr und habe ausreichend Geld, fehlt mir die Zeit für meinen Sohn.«
In jeder fünften deutschen Familie ist ein Elternteil alleinerziehend, in etwa 90 Prozent der Fälle sind es die Mütter. Und vielen von ihnen dürfte es wie Durchholz gehen. Eine qualitative Studie, die im »Journal of Family Issues« veröffentlicht wurde, zeigt, dass ihre Situation keine Ausnahme ist: Amerikanische Forscherinnen befragten dafür alleinerziehende Mütter, wie es ihnen angesichts der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen geht. Die Wissenschaftlerinnen verglichen dabei die Antworten von Frauen aus Ein- und Mehr-Erwachsenen-Haushalten. Während Ein-Erwachsenen-Haushalte nur aus der Mutter und ihren Kindern bestehen, leben in Mehr-Erwachsenen-Haushalten beispielsweise auch die Großeltern. Die Forscherinnen fanden heraus, dass vor allem Frauen in Ein-Erwachsenen-Haushalten stark durch die Anforderungen gestresst waren, die zeitgleich ihre Aufmerksamkeit beanspruchten: die Arbeit und die Versorgung der Kinder.
Ute Durchholz hätte ihren Sohn als erwerbstätige Alleinerziehende in Nordrhein-Westfalen einige Wochen nach Beginn der ersten Schulschließungen im März 2020 in die Notbetreuung geben dürfen. Sie verzichtete aber darauf. Und auch in der Woche vor Weihnachten, in der Eltern von Erst- bis Siebtklässlern in Nordrhein-Westfalen entscheiden konnten, ob sie ihr Kind zur Schule schicken oder nicht, blieb Durchholz' Sohn zu Hause. Vor allem weil sowohl der Vater, der zur Risikogruppe gehört, als auch die Mutter Sorge hatten, dass ihr Kind das Coronavirus mit nach Hause bringen könnte. Durchholz' größte Angst ist es, nicht mehr zu funktionieren. Wenn sie krank wird, gibt es niemanden, der für ihren Sohn sorgen kann. Auf den Vater des Kindes könne sie sich nicht völlig verlassen, sagt sie. Und ein familiäres Netz, das sie auffängt, gibt es nicht.
Krisen-Hotline für Alleinerziehende
Für Sorgen wie diese hat der Landesverband Nordrhein-Westfalen des Verbands allein erziehender Mütter und Väter e. V. (VAMV NRW) eine Corona-Krisen-Hotline eingerichtet. Dort bekommen Eltern Tipps zu rechtlichen Rahmenbedingungen, finanziellen Hilfen und psychosozialen Beratungsangeboten. »Wir haben seit März viele, viele Anrufe bekommen«, sagt Nicola Stroop, Vorständin des VAMV NRW.
Die Vereinbarkeit von Betreuung und Arbeit sowie die Isolation seien häufig Thema gewesen. »Was wir mitbekommen haben, ist, dass sich die persönliche Belastung durch die Corona-Krise enorm erhöht hat. Die Reaktion darauf ist Stress.« Und wenn Alleinerziehende dann merkten, dass ihre gewohnten Strategien – zum Beispiel Familienangehörige in die Betreuung einzubeziehen – pandemiebedingt nicht mehr funktionieren, steige ihre Beanspruchung weiter. »Die Corona-Krise wirkt wie ein Brennglas. Da, wo es vorher schon Probleme gab, läuft es jetzt noch schlechter. Und bei wem es gut lief, der kommt einigermaßen durch die Krise.«
»Als Alleinerziehende fühlt es sich an, als wäre die Bettdecke zu kurz: Irgendwas guckt immer raus«
Ute Durchholz, alleinerziehende Mutter
Bei Ute Durchholz lief es besser als bei vielen anderen: Sie startete mit einem Vollzeitjob in die Krise, der ihr Home Office ermöglichte und ausreichend Geld einbrachte. Und mit dem Vater des Kindes gibt es eine Umgangsregelung, so dass er sich 30 Prozent der Zeit um den Sohn kümmert. Das gibt Durchholz die Möglichkeit, wegzuarbeiten, was in der Zwischenzeit angefallen ist. Was ihr aber fehlt, ist jemand, mit dem sie die Anforderungen des Alltags und den ganzen »mentalen Ballast«, wie sie ihre Sorgen nennt, teilen kann.
Gleichgesinnte finden und ein Netzwerk aufbauen
Anfangs, nach der Trennung, ging es ihr damit noch schlechter. Es dauerte einige Jahre, bis sie begann, nach Frauen in der gleichen Situation zu suchen – über Facebook und über den VAMV. So fand sie Freundinnen, die zumindest einige ihrer Gedanken teilen. »Wenn ich frisch getrennten Eltern heute einen Rat geben könnte, dann wäre es dieser: Sucht euch möglichst früh Hilfe, auch wenn es Überwindung kostet!« So könne man Tipps zu finanziellen Hilfen bekommen oder einen Rat, wie man die Kinder auf die Trennung vorbereitet. »Und wenn man dann halbwegs klar gucken kann, sollte man sich möglichst ein Netzwerk aufbauen.« Mit Leuten zu sprechen, die das Gleiche erleben, nähme einem das Gefühl des Scheiterns.
Das ist es, was Matthias Franz mit seinem Trainingsprogramm »wir2« erreichen will. Franz arbeitet als Facharzt für Psychosomatische Medizin sowie als Psychoanalytiker und beschäftigt sich seit den 1980er Jahren mit den Folgen von Trennungen für Kinder. Alles begann mit einer Studie, die sich Menschen widmete, die in der Kindheit kriegsbedingt von ihren Vätern getrennt waren: »Was wir herausgefunden haben, war damals spektakulär. Das Fehlen des Vaters zog noch 50 Jahre nach Kriegsende psychische und psychosomatische Krankheiten nach sich.«
Inzwischen liegen viele Studien vor, und auch Franz hat als Hochschullehrer an der Universitätsklinik Düsseldorf empirisch belegen können, dass Kinder – insbesondere Jungen – aus Ein-Eltern-Familien zum Beispiel eher depressiv und verhaltensauffällig werden. Doch Alleinerziehende haben ebenfalls ein erhöhtes Risiko, psychische Störungen zu entwickeln: Depressionen, chronische Schmerzen, Suchterkrankungen und Angststörungen etwa treten bei ihnen häufiger auf. »Elterliche Depressivität und ein langfristiger Partnerkonflikt sind toxische Elemente, die die Entwicklungsprognose des Kindes verdüstern. Gelingt es aber, Hilfe anzubieten und in trennungsbedingten Paarkonflikten zu vermitteln, haben Trennungskinder die gleiche Prognose wie Kinder aus Paarfamilien«, sagt Franz.
Bindungstrainings für Eltern und Kinder können helfen
Hier setzt das Bindungstraining »wir2« an, das belasteten Alleinerziehenden mit Kindern von drei bis zehn Jahren bundesweit zur Verfügung steht. In einer stationären mehrwöchigen Reha-Maßnahme für Eltern und Kinder oder in 20 ambulanten Gruppensitzungen, die über ein halbes Jahr verteilt stattfinden, tauschen sich Teilnehmer über ihre Situation aus. Es gibt Rollenspiele und Gruppenübungen, die die elterliche Feinfühligkeit fördern sollen, sowie Impulsreferate durch speziell ausgebildete Gruppenleiter zu wechselnden Schwerpunktthemen. Darin geht es beispielsweise um den Umgang mit belastenden Gefühlen oder Paarkonflikten. Und anschließend nehmen die alleinerziehenden Mütter und Väter Feinfühligkeitsübungen für sich und das Kind mit nach Hause: Sie trainieren zum Beispiel, mit ihrem Kind wertschätzend über den abwesenden Elternteil zu sprechen. Der positive Effekt davon sei auch langfristig nachweisbar, sagt Franz.
Während der Corona-Pandemie steht »wir2« Alleinerziehenden weiterhin zur Verfügung. Auf Grund der Hygienebestimmungen finden weniger ambulante Gruppen statt, im stationären Rahmen können sie aber grundsätzlich fortgeführt werden. An einer Onlineversion werde laut Franz derzeit gearbeitet. »Der Bedarf ist auf jeden Fall da«, ist Franz sich sicher, obwohl es bisher wenig quantitative Forschung dazu gibt, wie es Alleinerziehenden in der Krise geht. Erste Hinweise aus der Wissenschaft zeigen Franz zufolge, dass die Situation für alle Eltern große Herausforderungen bereithalte. »Alleinerziehende trifft das jedoch härter, weil sie die materielle Situation und die Betreuung selbstständig bewältigen müssen.«
»Alleinerziehende sind auch schon ohne Corona-Krise meist am Limit«
Miriam Hoheisel, Geschäftsführerin des VAMV-Bundesverbands
Ute Durchholz wollte gern an einem »wir2«-Training teilnehmen. »Es gab in meiner Umgebung allerdings nur ganz wenige Plätze«, erklärt sie. Es sei wichtig, die Kinder in den Fokus zu rücken und an der Bindung zu arbeiten. Problematisch ist für sie nur der Zeitaufwand. Gerade für Alleinerziehende sei es schwierig, im Alltag regelmäßig zusätzliche Termine wahrzunehmen.
Weniger zeitaufwändig als »wir2« ist das Programm »Kinder im Blick« (KiB), das sich ebenfalls konkret an Eltern in Trennung wendet. Statt 20 Gruppensitzungen sind es hier nur sieben. Pädagogin Stefanie Amberg von der Ludwig-Maximilians-Universität München, die das Projekt wissenschaftlich betreut, erzählt: Der Ablauf der Treffen ist ähnlich wie bei »wir2«. Jeder Termin startet damit, dass einzelne Teilnehmer berichten, wie sie das Gelernte aus der letzten Sitzung im Alltag anwenden konnten. Es gibt kurze theoretische Inputs, Übungen sowie Aufgaben für zu Hause. Inhaltliche Schwerpunkte sind die Selbstfürsorge, die Beziehungspflege zum Kind und der Umgang mit dem anderen Elternteil.
»Das Programm wird kontinuierlich optimiert und evaluiert«, sagt Amberg. »So konnten wir schon belegen, dass die Teilnahme von nur einem Elternteil bereits positive Effekte auf das Wohlbefinden und die Konfliktsituation der Eltern hat. Ein Beleg der langfristigen Wirksamkeit steht noch aus.« Daran werde weiter gearbeitet, genauso wie an der Erstellung eines Online-Angebots. »Einige Kurse können derzeit wegen der Corona-Krise nicht stattfinden, weil die Gruppenräume oft zu klein sind, um die Hygieneregeln einhalten zu können.« Das Online-Angebot soll Ersatz bieten.
Strukturelle Verbesserungen sind dringend nötig
Hilfsangebote wie »wir2« und »KiB« sollen Alleinerziehenden auf individueller Ebene helfen. Die Geschäftsführerin des VAMV-Bundesverbands Miriam Hoheisel sagt über »wir2«: »Das Angebot kann für eine Teilgruppe Alleinerziehender sinnvoll sein: vor allem für diejenigen, die sich psychisch überlastet fühlen. Es reicht aber nicht. Wir setzen uns deshalb auch für strukturelle Verbesserungen ein, um gesellschaftliche Barrieren abzubauen, die Alleinerziehenden den Alltag und die Existenzsicherung erschweren. Das muss mit individuellen Angeboten Hand in Hand gehen.«
Der VAMV fordert eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, eine bedarfsgerechte Kinderbetreuung – also dann, wenn die Eltern auch tatsächlich arbeiten müssen – sowie eine stärkere finanzielle Unterstützung, die vollständig bei den Alleinerziehenden ankommt. »Alleinerziehende sind auch schon ohne Corona-Krise meist am Limit«, erklärt Hoheisel. In Zeiten pandemiebedingter Schulschließungen, sagt Nicola Stroop vom VAMV NRW, müsse es unbedingt Hilfe bei der Betreuung oder einen finanziellen Ausgleich geben. »Am besten wäre natürlich beides.«
Ute Durchholz hat ihre Arbeit während der Schulschließung auf Zeiten verschoben, in denen ihr Sohn schlief oder bei seinem Vater war. Und sie hat entschieden, dass ihr Sohn nur noch die Schulaufgaben machen sollte, in denen er gut ist, um ihm nicht langfristig seine Freude am Lernen zu nehmen. Dafür wiederholt er nun das Schuljahr. »Es sollte doch möglich sein, dass Alleinerziehende ihre Kinder sowohl betreuen als auch ernähren können«, sagt Durchholz. »Die Bettdecke muss reichen – und zwar von den Füßen bis zum Hals.«
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