Homeoffice: Der Arbeit Grenzen setzen
Das Interview beginnt wie so viele professionelle Gespräche dieser Tage: »Warten Sie kurz«, sagt Jan Dettmers, »meine Tochter kommt gerade nach Hause. Ich muss ihr schnell die Tür öffnen.« Nach einem kurzen Moment der Stille schallt Kindergeplapper durchs Telefon, dann ist Dettmers zurück.
Dem Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fernuniversität in Hagen geht es wie vielen Deutschen: Er arbeitet seit Beginn der Corona-Pandemie überwiegend zu Hause. Ein Fünftel der Befragten, die ihre Arbeitszeit vor der Krise ausschließlich in ihrem Betrieb verbrachten, haben in einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) angegeben, nun in Teil- oder sogar Vollzeit im Homeoffice zu sein. Zu Hause müssen sie oftmals Beruf und Privates miteinander vereinbaren. Damit droht die Grenze zu verschwimmen zwischen den Bereichen, die vorher durch die räumliche Trennung von Büro und Wohnort sowie die zeitliche Trennung von Arbeitstag und Feierabend gegeben war.
Psychologinnen und Soziologen nennen dieses Phänomen »Entgrenzung«: die Auflösung zeitlicher, räumlicher und organisationaler Grenzen. Die Soziologin Anita Tisch beschäftigt sich bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) beruflich mit Entgrenzung. Sie leitet dort die Arbeitsgruppe »Wandel der Arbeit«. Tisch sagt: »Arbeit findet nicht mehr überall so statt, wie man sie sich klassischerweise vorstellt: Man läuft nicht mehr morgens in die Fabrik, arbeitet acht bis zehn Stunden und geht dann wieder nach Hause. Heute kann man in vielen Berufen jederzeit und überall arbeiten.« Die zeitlichen und räumlichen Grenzen seien zunehmend in Auflösung begriffen, ergänzt Psychologe Dettmers, der das Thema seit mehr als zehn Jahren erforscht: »Und auch die organisationalen Grenzen werden immer flexibler: Statt klarer Anweisungen, wie lange und auf welche Weise ich eine Tätigkeit ausführen muss, gibt es oftmals nur noch grobe Zielvorgaben, die eingehalten werden sollen – egal, in welcher Zeit und auf welchem Weg.«
Verantwortlich dafür sind laut der Soziologin Tisch mehrere Treiber. Zum einen die zunehmende Globalisierung und Individualisierung von Arbeit, zum anderen die Verbreitung mobil nutzbarer Technologien. »Diese Entwicklungen sind nicht zwingend schlecht. Erst mal bieten sie mehr Freiheiten«, sagt sie. Wer jederzeit und überall arbeiten kann, kann eventuell Familie und Beruf besser vereinbaren und spart sich den Weg zur Arbeit.
»Tatsächlich bewerten Arbeitnehmer die wachsenden Freiheiten zunächst oftmals positiv«, bestätigt Dettmers. »Allerdings werden aus den Möglichkeiten auch schnell Anforderungen.« Aus dem Luxus des raum- und zeitflexiblen Arbeitens könne sich die Erwartungshaltung von Unternehmen und Vorgesetzten entwickeln, Mitarbeiter müssten jederzeit und überall für sie erreichbar sein.
»Wir beobachten Entgrenzung besonders in Unternehmen, in denen es keine vertraglichen Vereinbarungen oder Absprachen dazu gibt«, schildert Tisch ihre Erfahrungen. Nun sind im Zuge der Coronakrise aber viele Arbeitnehmer ohne Vorbereitung ins Homeoffice gewechselt. »Das waren besondere Bedingungen«, fasst Dettmers die Situation zusammen. Der Wechsel ins Homeoffice sei sehr plötzlich und in massivem Ausmaß – nicht nur für ein oder zwei Tage die Woche, sondern gleich in Vollzeit – geschehen. Dettmers und Tisch sind sich deshalb einig, dass es in der akuten Phase der Corona-Pandemie vielfach verstärkt zu Entgrenzung gekommen sein muss. Tisch sagt: »Die Arbeit ist durch das Homeoffice viel stärker in den privaten Bereich vorgedrungen, die Grenze hat sich verschoben.«
»Die Arbeit ist durch das Homeoffice viel stärker in den privaten Bereich vorgedrungen, die Grenze hat sich verschoben«
Anita Tisch, Soziologin
Dettmers wollte deshalb herausfinden, wie es den Arbeitnehmern zu Hause ging. Seine Befragung ergab, dass sie den Alltag tendenziell positiv bewerteten, und das, obwohl sie ihr neues Büro daheim ohne Vorbereitung und in Vollzeit beziehen mussten. Die bisher unveröffentlichten Ergebnisse wollen allerdings nicht so recht zu vorangegangenen Studien passen, die zeigen, dass eine Mischform aus Homeoffice und Präsenz im Unternehmen ideal ist. Eine Erklärung für die jüngsten Befunde hat Dettmers noch nicht. »Ich würde mich auch davor hüten, die Ergebnisse zu verallgemeinern. Schließlich geht es um eine Ausnahmesituation. Aber erstaunlich sind sie allemal.«
Klar ist, dass Entgrenzung sich nicht auf alle Menschen gleich auswirkt. Ein Team um den Psychologen Blake Ashforth habe bereits im Jahr 2000 die »Boundary Theory« entwickelt, erklärt Tisch. Die Theorie beschreibt zwei Strategien, wie Menschen Arbeit und Privates verbinden können: Entweder sie behandeln beide Bereiche getrennt, oder sie vereinen sie. Die Fachbegriffe dafür sind »Segmentierung« und »Integration«. »Es ist Typsache, wie Menschen mit Entgrenzung umgehen. Einige integrieren die Lebensbereiche gerne und erleben demnach keine negativen Folgen. Andere brauchen eine starke Segmentierung und leiden eher unter Entgrenzung«, sagt Tisch.
Vermischung von Beruf und Privatleben kann Stress verursachen
Vor der Coronakrise ergab eine Untersuchung der BAUA, dass zwei Drittel der Befragten eine Segmentierung der Lebensbereiche bevorzugen. Demnach erlebt mutmaßlich ein größerer Anteil der Arbeitnehmer Entgrenzung als negativ. Bei ihnen verursacht die starke Vermischung von Beruf und Privatem Stress und einen Mangel an Erholung. Die gesundheitlichen Folgen können gravierend sein: Das Risiko für Erschöpfung und Burnout, Konzentrationsschwächen, Schlafprobleme, psychosomatische Störungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt.
Zudem kann Entgrenzung Rollenkonflikte verursachen. Psychologen sprechen von einem Rollenkonflikt, wenn eine Person mehreren Anforderungen aus verschiedenen Lebensbereichen gleichzeitig gerecht werden soll – zum Beispiel, wenn Dettmers seiner Tochter mitten in einem beruflichen Telefonat die Tür öffnen muss. Hier lässt sich der Konflikt schnell auflösen. Ist es allerdings nicht möglich, beiden Anforderungen gleichzeitig gerecht zu werden, kann es zu Stress und Streitigkeiten in sozialen Beziehungen kommen.
Die negativen Folgen von Entgrenzung können also drastisch sein. Trotzdem gelingt es vielen Menschen nicht, sich zu entziehen. Dettmers geht es da nicht anders: »Ich bin sicher kein Vorbild. Ich schaffe es auch nicht immer, mich vor Entgrenzung zu schützen.« »Interessierte Selbstgefährdung« nennen Experten es, wenn jemand trotz besseren Wissens so viel arbeitet, dass es ihm schadet. Anita Tisch nennt drei Ursachen dafür: Zum einen kann die Motivation altruistisch sein. »Klar weiß ich als Arzt, dass ich nach 12 oder 13 Stunden nicht mehr so leistungsfähig bin, aber der Patient braucht eben Hilfe«, sagt Tisch beispielhaft. Zum anderen können Karriereambitionen dazu motivieren, über individuelle Grenzen hinaus zu arbeiten. Den dritten Grund sieht Tisch in der Unternehmenskultur. »Es gibt Betriebe, die leiten einfach ab einer bestimmten Uhrzeit keine E-Mails mehr weiter«, beschreibt Tisch. In anderen Unternehmen würde hingegen ständige Erreichbarkeit gefordert, oder es gebe einfach gar keine Absprachen. Das müsse sich ändern.
Das Gesetz regelt schon recht viel
Ihre Arbeitsgruppe versucht derzeit im Rahmen eines Projekts herauszufinden, wie der Entgrenzung Einhalt geboten werden kann. Tisch hat schon jetzt einige Vorschläge und nimmt dabei vor allem die Unternehmen in die Pflicht: Zuallererst sollten auf Teamebene klare Regeln aufgestellt werden. Diese müssen die bestehenden Gesetze einhalten: Das Arbeitszeitgesetz sieht vor, dass die Höchstarbeitszeit am Tag bis auf wenige Ausnahmen bei maximal acht Stunden liegen darf und eine Ruhepause von elf Stunden bis zum nächsten Arbeitseinsatz eingehalten werden muss. Zudem gilt die Arbeitsstättenverordnung, wonach Arbeitgeber beispielsweise verpflichtet sind, ihren Angestellten in Telearbeit geeignete Arbeitsplätze einzurichten.
Laut dem Arbeitsschutzgesetz müssen Arbeitgeber zudem mögliche Gefahren für die physische und psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter analysieren. Davon ist auch das Homeoffice nicht ausgenommen. Über die gesetzlichen Rahmenbedingungen hinaus sollten Unternehmen ihre Mitarbeiter und Führungskräfte zum Beispiel mittels Schulungen befähigen, sich selbst vor Entgrenzung zu schützen. Schließlich sollten Arbeitgeber ihren Angestellten vertrauen können, dass diese im Homeoffice selbst für ihr Wohlergehen sorgen. In den Unternehmen müsse sich eine Kultur etablieren, in der es ausdrücklich erwünscht ist, dass sich Angestellte selbst Grenzen setzen und auch mal nicht erreichbar sind.
»Sich am Morgen anzuziehen, die Arbeitszeit einzuhalten, Pausen einzulegen und am Abend den Computer herunterzufahren, statt ihn nur zuzuklappen, kann helfen«
Anita Tisch
Doch Mitarbeiter haben ebenfalls die Möglichkeit, einer Entgrenzung gezielt entgegenzuwirken. Ein fester Arbeitsplatz zu Hause ist hilfreich. Darüber hinaus sollten sich Arbeitnehmer Routinen angewöhnen, um einen echten Arbeitsalltag herzustellen: »Sich am Morgen anzuziehen, die Arbeitszeit einzuhalten, Pausen einzulegen und am Abend den Computer herunterzufahren, statt ihn nur zuzuklappen, kann helfen«, sagt Tisch. Die eigene Erreichbarkeit den Kollegen gegenüber zu kommunizieren, sei auch sinnvoll. Der Kontakt zum Team sei ohnehin wichtig – allein schon, um nicht zu vereinsamen. Dettmers empfiehlt sogar, regelmäßige Telefonkonferenzen durchzuführen, um im Team darüber zu sprechen, wie es den Beteiligten geht, und um negativen Entwicklungen rechtzeitig vorzubeugen.
Wie die beiden selbst mit Entgrenzung umgehen? »Ich arbeite überwiegend im Büro«, sagt Anita Tisch. Sie bevorzuge einen stark segmentierten Alltag und meide das Homeoffice wenn möglich. Jan Dettmers, der bereits vor der Coronakrise regelmäßig daheim gearbeitet hat, sagt: »Ich habe Familie. Da kommen Anforderungen auf einen zu, die dazu zwingen, die Arbeit rechtzeitig abzuschließen.« Die Familie kann dem beruflichen Alltag also auch Grenzen setzen.
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