Chronischer Schmerz: Schmerz lass nach!
Kein anderer Zustand treibt Menschen so häufig in Arztpraxen und Notaufnahmen wie der Schmerz. Stechen in den Ohren, ein pochender Schädel, ein entzündetes Gelenk – die Pein kann fast jeden Körperteil treffen. Nicht immer steckt hinter den Beschwerden eine akute Erkrankung. Schätzungen zufolge leidet etwa einer von vier Erwachsenen unter chronischen Schmerzen. So wie Lars*, bei dem vor fünf Jahren das Schmerzsyndrom Fibromyalgie diagnostiziert wurde. »Die Schmerzen wechseln bei mir immer wieder. Manchmal sind sie stärker, manchmal schwächer«, erzählt er dem Portal »Gesundheitsinformation.de«. »Oft schmerzt der gesamte Körper bei jeder Bewegung. Es fühlt sich in etwa so an wie ein starker Muskelkater. Die Schmerzen sind jeden Tag da.« Bei ihm sowie bei vielen anderen Patienten finden sich trotz jahrelanger Suche keine organischen Ursachen für die Pein. Das macht sie jedoch nicht weniger real als Beschwerden, die man etwa nach einem Sturz oder nach einer Operation verspürt.
Stefani Adler, Leiterin der Abteilung für Interdisziplinäre Schmerztherapie an der Universitätsmedizin Greifswald, kümmert sich täglich um Menschen, die mit chronischen Schmerzen kämpfen. Viele kommen wegen Rückenbeschwerden in die Klinik, aber auch Unfallgeschädigte, Menschen mit Gürtelrose, Tumorerkrankungen oder anhaltenden Kopfschmerzen behandelt sie häufig. Betroffene nehmen manchmal bereits jahrelang schmerzstillende Medikamente ein, so genannte Analgetika. Eine unzureichende Therapie, denn »ihr Schmerz ist chronisch geworden; diese Menschen leiden an einer Schmerzkrankheit«, erklärt Adler.
Wer stürzt, sich verbrennt oder sich den Finger einklemmt, spürt das nahezu sofort. 150 bis 400 Millisekunden nach dem Unglück ist das Gehirn informiert. Schmerzrezeptoren, die Nozizeptoren, registrieren Gewebeschäden und melden sie über spezialisierte Neurone im Rückenmark blitzschnell an den Thalamus weiter. Akuter Schmerz soll uns vor Gefahren schützen, erklärt Markus Ploner, der das PainLabMunich am Neuro-Kopf-Zentrum der TU München leitet. »Etwas ist zu heiß, oder der Druck ist zu groß – ich muss handeln, um der Bedrohung zu entkommen.«
Beim chronischen Schmerz liegt der Fall anders. »Dieser Schmerz hat jegliche schützende Funktion verloren«, sagt Ploner. Er liefert keine objektiven Informationen über drohende Verletzungen und spiegelt nicht mehr die Gefahr wider, in der man sich befindet. »Stattdessen haben sich Teile des Nervensystems, die den Schmerz verarbeiten, verändert; sie sind umgebaut worden«, so der Neurologe.
Defekte Alarmanlage des Körpers
Als chronisch bezeichnet man jenen Schmerz, der nach dem Abheilen von Gewebeschäden andauert und keinen erkennbaren Nutzen hat. Der US-amerikanische Anästhesist John Bonica prägte dafür den Begriff des »pathologischen Schmerzes«. Folgen Druckempfindlichkeit und Wundsein direkt auf eine Verletzung, können sie den Heilungsprozess unterstützen, indem sie uns zur Schonung zwingen. Beim chronischen Schmerz ist die körperliche Vorsorge aus dem Ruder gelaufen: Ein Schmerzgedächtnis hat sich gebildet. Nervenzellen, die das Schmerzsignal senden, sind leichter erregbar geworden oder haben sich stärker miteinander verknüpft. Gleiches gilt für die verschiedenen Regionen des Gehirns, die für die Schmerzwahrnehmung zuständig sind. Nervenbahnen, die schmerzhemmende Signale weiterleiten, sind dagegen geschwächt.
Das Resultat dieser Umbauten vergleicht die Schmerzforscherin Andrea Furlan von der University of Toronto mit der defekten Alarmanlage eines Hauses. Eigentlich soll der Alarm nur dann losgehen, wenn jemand versucht, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Nun schrillt die Sirene aber bereits, wenn jemand an der Tür klopft.
Schmerz und Autismus – die neuen Serien in »Gehirn&Geist«
Serie Schmerz:
Ein Leben ohne Pein – davon träumen nicht nur Schmerzpatienten. Auch zahlreiche Neurowissenschaftler suchen nach Wegen aus dem Leid. Wie ein Puzzle setzen sie immer neue Erkenntnisse zur Schmerzentstehung zusammen. In dieser Serie stellen wir einige von ihnen vor.
Teil 1, Gehirn&Geist 10/2020: Das Leiden in den Griff bekommen – Menschen mit chronischen Schmerzen helfen Medikamente meist nur wenig. Eine erfolgreiche Therapie deshalb muss auch psychische Faktoren berücksichtigen.
Teil 2, Gehirn&Geist 11/2020: Wie viel spüren Babys? – Früher dachte man, Neugeborene empfänden fast gar keinen Schmerz. Heute ist klar: Sie sind teils sogar empfindlicher als Erwachsene. Das hat Auswirkungen auf ihre medizinische Versorgung.
Teil 3, Gehirn&Geist 12/2020: Es schmerzt so gut – Viele Menschen setzen sich freiwillig Situationen aus, die mit Schmerzen verbunden sind – beim Extremsport, beim Essen eines scharfen Currys, beim Sex. Warum ist das so?
Serie Autismus:
Zur Autismus-Spektrum-Störung gibt es viele Mythen und Missstände. Forscher sind sich noch uneins darüber, wie die Entwicklungsstörung entsteht. Während manche tief im Gehirn nach Antworten fahnden, suchen andere nach Wegen, um Betroffenen den Alltag zu erleichtern.
Teil 1 Gehirn&Geist 10/2020: Unter der Oberfläche – Zu den neuronalen Wurzeln von Autismus gibt es zahlreiche Theorien. Die meisten Modelle suchen Ursachen der Entwicklungsstörung in der Hirnrinde, doch vieles spricht dafür, dass sich ein Blick in die subkortikalen Bereiche des Organs lohnen würde.
Teil 2 Gehirn&Geist 11/2020: Der Fieber-Effekt – Ein Fieber mildert Symptome der Autismus-Spektrum-Störung manchmal kurzfristig ab. Betroffene verhalten sich in der Zeit vermehrt neurotypisch. Wie kommt dieser Effekt zustande?
Teil 3 Gehirn&Geist 12/2020: Leben mit Autismus – Im Interview spricht die Forscherin und Autistin Silke Lipinski darüber, wie Betroffene im Alltag besser mit ihrer Diagnose umgehen und ihre Lebensqualität steigern können.
Wie und warum chronische Schmerzen entstehen, lässt sich nur schwer bestimmen. Das hat mindestens zwei Gründe. Zum einen: Es ist kaum möglich, die Schmerzintensität mit gängigen Messgrößen zu erfassen. Und alles, was nicht objektiv quantifizierbar ist, lässt sich mit wissenschaftlichen Methoden nur unzureichend untersuchen. Zum anderen: Die Schmerzwahrnehmung ist eine höchst komplizierte Angelegenheit. Selbst den gleichen Schmerzreiz erleben verschiedene Personen unterschiedlich. Wie sehr ihnen etwas weh tut, lässt sich nur feststellen, indem man sie experimentell einem Schmerzreiz aussetzt und fragt, als wie schlimm sie ihn empfinden.
Das individuelle Schmerzempfinden verändert sich zudem mit der Situation und der Tagesverfassung der betroffenen Person. Wer nachts mit Zahnschmerzen wach liegt, wird sie oft als intensiver wahrnehmen als tagsüber, wenn Aufgaben und soziale Aktivitäten Ablenkung bieten. »Womöglich spürt ein Unfallopfer trotz gebrochenes Knöchels zunächst keinen Schmerz, weil das Gehirn die Priorität setzt: Um dein Leben zu retten, musst du dieses Auto sofort verlassen«, erläutert Stefani Adler. In solchen Extremfällen schüttet der Körper so genannte Endorphine aus, die den Schmerz vorübergehend ausschalten können.
Auch die umgekehrte Situation ist möglich. Berühmt ist der Fall eines Bauarbeiters, der mit einem 15 Zentimeter langen Nagel im Schuh in die Notaufnahme einer Klinik eingeliefert wurde. Die Ärzte mussten ihn mit starken Schmerzmitteln versorgen, bevor sie den Schuh überhaupt anrühren, geschweige denn vom Fuß entfernen konnten. Die Überraschung: Der Mann war gar nicht verletzt, in seinem Socken klebte kein Tropfen Blut. Der gewaltige Nagel hatte sich seinen Weg genau zwischen zwei Zehen gebahnt.
Im Prinzip können sich bei jedem Menschen aus akuten Schmerzen chronische entwickeln. In den meisten Fällen geschieht das glücklicherweise nicht. Nach einer Operation, bei der Nerven verletzt wurden, klagen 80 von 100 Patienten über Schmerzen. Bei 10 von ihnen bleiben sie langfristig bestehen. Warum es die eine Person trifft und die andere nicht, ist noch nicht gut verstanden. Faktoren, die das Risiko erhöhen, kennt man jedoch schon.
Je älter jemand ist, desto eher entwickelt er oder sie chronische Schmerzen. Männer sind allgemein seltener betroffen als Frauen. Von mehr als 150 verschiedenen Risikogenen, die jeweils einen sehr geringen Effekt haben, weiß man bereits. Zudem beeinflussen das Lebensumfeld und die Lebensgeschichte das Schmerzempfinden. So beugen Kälte und wenig direkte Sonneneinstrahlung der Pein vor, während frühe traumatische Erfahrungen schmerzförderlich wirken. Auf viele dieser Umstände hat der Betroffene kaum beziehungsweise nur wenig Einfluss. »Das biografische Gepäck eines Menschen kann man nicht abstreifen, mit keiner Pille und mit keiner Operation«, sagt Stefani Adler.
Handeln, bevor Schmerzen chronisch werden
Andere Faktoren sind veränderlich und stellen daher mitunter einen wirkungsvollen Behandlungsansatz dar. Rauchen, unzureichende körperliche Aktivität, Schlafmangel und ungesunde Ernährung erhöhen das Risiko, chronische Schmerzen zu entwickeln. Das gilt es deshalb zu vermeiden. Eine schnelle Behandlung von akuten Beschwerden mit wirksamen Medikamenten schützt wiederum vor der Chronifizierung. »Je schlechter man akuten Schmerz behandelt, desto größer wird das Risiko«, erklärt Stefani Adler.
Doch mit einer Tablette oder einer Salbe allein ist es nicht getan. Einer der bedeutendsten Einflussfaktoren dafür, ob Schmerzen chronisch werden und wie lange sie andauern, stellt laut Experten das individuelle Glaubens- und Verhaltensmuster einer Person dar. Diejenigen, die zu passiven Bewältigungsstrategien neigen – Ruhe, Schonung, Medikamente –, sind gefährdeter als Menschen, die aktiv bleiben, etwa trotz Rückenschmerzen spazieren oder schwimmen gehen. »Wenn Patienten die Haltung zu ihren Beschwerden verändern, kann das die Schmerzintensität verringern und die Lebensqualität verbessern«, schreiben Sarah Mills und ihre Kollegen von der schottischen University of Dundee in einer Übersichtsarbeit zum Thema.
Eine schwierige Therapie
Akuter Schmerz lässt sich mit Medikamenten meist ausreichend dämpfen. Weil beim chronischen Schmerz aber andere Mechanismen eine Rolle spielen, gelingt die Behandlung mit denselben Mitteln in der Regel weniger gut. Ist die Schmerzleitung erst einmal sensibilisiert, lässt sich das bloß schwer rückgängig machen. Eine längere Anwendung von Analgetika wie Opioiden kann die Empfindlichkeit sogar steigern. Chronische Schmerzpatienten, ausgenommen Tumor- und Palliativpatienten, profitieren deshalb auf Dauer kaum von solchen Arzneien, leiden aber sehr wohl unter deren Nebenwirkungen.
In den vergangenen 30 Jahren erlangten nur wenige neue schmerzstillende Medikamente Marktreife. Viele sind aus der Neurologie »geborgt« – sie wurden also für einen anderen Zweck entwickelt, zum Beispiel um epileptische Anfälle zu lindern. Zumeist sind auch diese Mittel nicht ausreichend wirksam. Der so genannte NNT-Wert (number needed to treat) gibt an, wie viele Personen behandelt werden müssen, damit sich bei einem von ihnen die Beschwerden zumindest halbieren. Dieser Wert liegt bei manchen Wirkstoffen gegen chronischen Schmerz bei 7, bei anderen sogar bei 10.
Forscher suchen deshalb nach neuen Therapieoptionen. Mehrere Ansätze durchlaufen aktuell experimentelle und frühe klinische Studienphasen. Dazu zählen Antikörper gegen den Nervenwachstumsfaktor NGF. Eine Injektion von Tanezumab an die Stelle, wo es schmerzt, soll die Anzahl von Schmerzrezeptoren in dem Areal verringern. Bisherige Daten versprechen nur mäßigen Erfolg, und die Behandlung wird von zum Teil heftigen Nebenwirkungen begleitet. Eine andere Strategie testet ein Forscherteam um Allan Basbaum von der University of California in San Francisco an Mäusen. Die Wissenschaftler züchteten aus Stammzellen der Tiere Nervenzellen, die den Neurotransmitter GABA produzieren und ausschütten. Die Zellen implantierten sie ins Rückenmark erwachsener Nager, wo sie sich mit anderen Neuronen vernetzten und neuropathische Schmerzen der Mäuse hemmten. In den kommenden Jahren wollen sie ein ähnliches Verfahren bei Menschen erproben.
Auf »schlafende« Nozizeptoren hat es die Arbeitsgruppe von Barbara Namer am Institut für Physiologie an der RWTH Aachen abgesehen. Die sind unempfindlich gegenüber mechanischen Reizen, spielen jedoch eine wichtige Rolle bei Entzündungsschmerz. »Bei Patienten mit neuropathischem Schmerz reagieren diese Nozizeptoren, obwohl gar kein auslösender Reiz da ist«, erklärt Namer. »Das trägt wohl wesentlich dazu bei, dass schmerzleitende Neurone im Rückenmark sensibler werden.« Das Resultat: Chronischer Schmerz entsteht. Dem entgegenwirken könnten Hemmstoffe, die gezielt diese Rezeptoren blockieren, während die akute Schmerzleitung ungestört bleibt.
Die Hirnaktivität verändern
Markus Ploner plädiert für neue Ideen im Kampf gegen chronischen Schmerz. Trotz jahrzehntelanger Forschung, die Milliarden Euro gekostet habe, sei man bisher nicht wirklich vorangekommen. Mit seinem Münchner Team untersucht Ploner einen alternativen Ansatz: Bei Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden, ist die Hirnaktivität in den schmerzverarbeitenden Regionen verändert. Durch Messung der Hirnströme wollen die Wissenschaftler das sichtbar machen und die neuronale Aktivität mit Hilfe einer nicht invasiven Elektrostimulation normalisieren.
»Ob man diese Hirnoszillation tatsächlich von außen beeinflussen kann und die Behandlung schließlich erfolgreich ist, wissen wir noch nicht«, erläutert Ploner. Sollten die Versuche gelingen, wäre Hirnstimulation trotzdem nicht die Lösung des Problems. Eine einzelne wirksame Behandlung gegen den chronischen Schmerz wird es voraussichtlich nicht geben. Ziel ist es stattdessen, die Therapie optimal an den individuellen Patienten anzupassen, so Ploner. Der Rheumatologe Leslie Crofford von der Vanderbilt University School of Medicine in Nashville sieht das ähnlich. »Hirnstimulation ist eine medizinische Antwort auf den chronischen Schmerz. Ich denke aber, dass es keine allein medizinische Antwort für dieses Problem geben wird.« Je mehr man sich auf rein physiologische Lösungen versteife, desto weniger kümmere man sich um die Wurzeln des Problems, fürchtet Crofford.
Schmerztagebuch
Bei chronischen Schmerzen kann es sinnvoll sein, über die Beschwerden und ihren Kontext Tagebuch zu führen. Der schmerzende Bereich, Stärke der Beschwerden, Uhrzeit, Stimmung und Begleitumstände werden dabei regelmäßig über einen längeren Zeitraum notiert. So lässt sich bestimmen, ob Symptome in bestimmten Situationen vermehrt auftreten – ob sich der Nacken etwa tagsüber versteift, während man konzentriert am Bürotisch sitzt, oder ob die Schmerzen mit einer getrübten Stimmung oder Schlafmangel einhergehen. Die Beobachtungen können dem Therapeuten dabei helfen, die Behandlung bestmöglich an die individuellen Bedürfnisse des Patienten anzupassen.
Auch Stefani Adler findet die ständige Suche nach der körperlichen Ursache kontraproduktiv. Man verliere damit Zeit und Energie, sich auf sinnvolle Therapien zu konzentrieren. Laut der Nationalen VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz sollte schon der Hausarzt die psychosozialen Aspekte des Schmerzes mit abfragen. Zudem sollte er darauf hinweisen, wie sehr Stress die Beschwerden beeinflussen kann, und den Patienten gegebenenfalls an die richtigen Fachkräfte weiterleiten. Häufig passiert das noch nicht.
Ein Arzt, dem ein Schmerzpatient gegenübersitzt, sollte immer auf die individuelle Situation des Betroffenen eingehen. Er kann etwa fragen, in welchen Situationen der Schmerz zu- oder abnimmt. So lässt sich der Einfluss von Stress oder körperlicher Belastung erahnen. Schlafmangel, Niedergeschlagenheit und familiäre Probleme können Hinweise auf eine psychische Komponente geben. Und die individuelle Einschätzung des Patienten – wie sehr ihn die Schmerzen belasten und welche Änderungen ihm guttun würden – kann die weitere Therapie lenken.
Bei der Behandlung des Problems müssen Gedanken- und Verhaltensmuster des Betroffenen ausreichend berücksichtigt werden. Wie das gelingen kann, schildert Anke Diezemann, leitende Psychotherapeutin am DRK Schmerz-Zentrum in Mainz, am Beispiel einer 50-jährigen Patientin. Diese leidet seit Jahren an chronischen Rückenschmerzen. Medikamente, Injektionen und ein Rückengurt halfen ihr, wenn überhaupt, nur vorübergehend.
Die Frau plagte die Vorstellung, ihre Wirbelsäule bestehe aus zerbrechlichen Teilen, die wie ein Porzellangefäß zerbersten würden, wenn sie sich unbedacht bewege. Zu den falschen Bewegungen gehörte für sie, sich zu bücken, was sie vermied – wie beim Ausräumen der Spülmaschine oder beim Zubinden der Schuhe. Eine ärztliche Untersuchung bestätigte ihre Angst nicht. Im Gegenteil, ihre Wirbelsäule war beweglich, nichts würde einfach so kaputtgehen. »Weil die Patientin bei bestimmten Bewegungen starke Schmerzen hat, meidet sie diese«, erklärt Diezemann. Durch die Schmerzen ist die Frau zunehmend belastet. Bei der Arbeit fällt es ihr schwer, sich zu konzentrieren, und im Haushalt ist sie auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen.
Diezemanns Therapie besteht aus zwei wesentlichen Komponenten: »Zunächst erkläre ich ihr, in welchem Teufelskreis sie sich befindet: Die Vermeidung von Bewegung aus Angst vor Schmerzen führt dazu, dass ihre Muskeln sich verkürzen, was den Schmerz verstärkt.« Zudem verschlimmert Katastrophisieren die Situation, also Gedanken wie »Wenn das so weitergeht, verliere ich meinen Arbeitsplatz« oder »Ich wusste ja, diese oder jene Bewegung tut mir nicht gut«. Zusammen mit einem Physiotherapeuten und Diezemann übt die Patientin dann genau die Bewegungen wieder ein, die sie meidet. Es gilt von der Angst wegzukommen hin zu der Feststellung »Ich kann das!«. »Die Muskeln werden gestärkt, die Schmerzen so gelindert«, sagt Diezemann. Aktuell würde die Patientin ihren Rücken während der Therapie schon wieder beugen. Ziel sei es nun, dass sie sich auch im Alltag wieder normal bewege.
Nicht immer muss der Fokus darauf liegen, den Schmerz zu beseitigen. Stefani Adler geht es in der Greifswalder Tagesklinik vor allem um die Frage: Wie kann ein Leben mit der Pein gelingen? Sie verfolgt eine multimodale Schmerztherapie. Ärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Entspannungs- und Psychotherapeuten arbeiten dabei zusammen, um Betroffenen zu helfen, ihre Schmerzen besser unter Kontrolle zu bringen. Die Patienten lernen, sich ihren Tag in Aktivitäts- und Ruhephasen einzuteilen, sie probieren sportliche und kreative Aktivitäten aus, trainieren Entspannungstechniken und bekommen psychologische Unterstützung. »Menschen, die zu uns kommen, wollen etwas ändern. Sie sind motiviert und bereit, intensiv daran zu arbeiten«, sagt Adler. Und sie und ihr Team unterstützen die Patienten dabei.
* Name und Fallgeschichte anonymisiert.
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