News: Wehe, sie sind losgelassen
Hitzeschockproteine sind von einfachen Bakterien bis zum Menschen in allen Organismen zu finden. Diese auch als Chaperone bezeichneten Moleküle haben ihren Namen daher, daß sie häufig als Antwort der Zelle auf hohe Temperaturen gebildet werden. Sie bewahren dann andere Proteine davor, sich zu entfalten oder ihre funktionelle Form zu verlieren. Andernfalls könnten diese Proteine nämlich nicht mehr ihre Aufgabe erfüllen, und der gesamte Zellstoffwechsel käme zum Erliegen.
Hsp 90 hat ganz spezielle "Kunden": Proteine, die Signal für die Embryonalentwicklung und die Ausdifferenzierung der Zelle verarbeiten. Diese Signalwandler sorgen dafür, daß sich zum Beispiel bei Menschen genau zur richtigen Zeit genau zwei Arme an genau den richtigen Stellen entwickeln.
Unter starkem Streß beginnen aber alle Sorten von Proteinen, sich zu entfalten, und Hsp 90 muß mehr als nur die übliche Arbeit übernehmen. Die Pfade zur Signalverarbeitung sind dann weniger gut bewacht, so daß kleine genetische Variationen, die sonst unbemerkt bleiben, sich auswirken können. Dadurch geht die Entwicklung des Organismus plötzlich andere Wege als üblich. Es kann sogar zu großen Veränderungen kommen, die an die Nachkommen weitervererbt werden. "Das klingt wie eine schlechte Sache, und das ist es ohne Zweifel auch für die meisten Individuen", sagt Susan Lindquist von der University of Chicago. "Für einige können die Veränderungen aber eine nützliche Anpassung an die neue Umgebung sein. Kryptische genetische Variationen, die auf diese Weise an das Tageslicht gelangen, werden zum Antrieb der Evolution."
Zusammen mit Suzanne Rutherford hat Lindquist gezeigt, daß eine verminderte Konzentration von Hsp 90 natürlichen genetischen Modifikationen in Taufliegen ermöglichte, plötzlich ausgeprägt zu werden (Nature vom 26. Novemder 1998). Sie kreuzten Fliegen, die aufgrund einer Mutation im Gen für Hsp 90 nur halb so viel Hitzeschockprotein besaßen, mit verschiedenen anderen Populationen. Von den Nachkommen unterschieden sich manche deutlich von ihren Eltern: Sie hatte Flügel mit dicken Adern, seltsam angeordnete Borsten, deformierte Augen oder Beine. Die gleichen Ergebnisse erzielten sie mit einer Wildtyp-Population, die mit einer Chemikalie behandelt wurde, welche Hsp 90 hemmt.
Als die Wissenschaftler die erste Tochtergeneration weiterkreuzten, stieg die Anzahl der seltsam gebauten Taufliegen weiter an. Allerdings fiel auf, daß bestimmte Populationen zu immer dem gleichen Typ von Veränderungen neigten. Wurden die Hsp 90-schwachen Fliegen zum Beispiel mit einer bestimmten Gruppe gekreuzt, gab es häufig Nachkommen mit seltsamen Flügelformen, während eine andere Population deformierte Antennen an die nächste Generation weitergab. "Daraus schließen wir, daß es Populations-spezifische versteckte genetische Verrücktheiten gibt", erklärt Lindquist.
Nach mehreren Zuchtdurchläufen zeigten etwa 90 Prozent der Taufliegen sichtbare Anomalien. Die Konzentration von Hsp 90 hatte sich inzwischen wieder auf den normalen Wert gesteigert. Die Forscher interpretieren dies so, daß Hsp 90 in langen Perioden genetischer Stabilität die genetischen Variationen kontrolliert. Bei heftigen Umweltveränderungen – wie zum Beispiel starken Klimaschwankungen – funktioniert das nicht mehr, die versteckten Varianten setzen sich durch. Modifikationen, die sich als sinnvoll erwiesen haben, werden nach der Zeit des Umbruchs wieder durch normale Werte von Hsp 90 geschützt.
"Diese Weise, wie Hsp 90 versteckte genetische Variationen verdeckt und aufdeckt, wäre ein sehr plausibler Mechanismus, wie die natürliche Selektion die Variationen testen kann. Es wird allerdings keine einfache Aufgabe sein zu zeigen, daß dies auch auf einer evolutionären Zeitskala stattfindet", sagt Lindquist.
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