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Suizide: Wer es mehr als einmal versucht

Unter den Überlebenden von Suizidversuchen unternehmen viele in den Folgejahren einen weiteren Versuch. Woran erkennt man, wer besonders gefährdet ist?
Ein Mann steht mit gebeugtem Kopf am Fenster
Suizidgedanken? Das Wissen um Risikofaktoren kann helfen, die Gefahr einzuschätzen. (Symbolbild)

Der größte Risikofaktor für einen Suizid ist ein vorangegangener Suizidversuch. Eine versuchte Selbsttötung in der Vorgeschichte gilt für Fachleute deshalb als Alarmsignal: In diesen Fällen ist es besonders wichtig, auf weitere Risikofaktoren zu achten, wie Hoffnungslosigkeit, psychische Störungen, impulsives Verhalten und die Art des ersten Suizidversuchs. Doch zwei Studien aus dem Jahr 2024 liefern dazu teils unerwartete Ergebnisse.

Eine aktuelle Metaanalyse aus Spanien über 34 Studien bestätigt zwar bekannte Warnzeichen für einen zweiten Versuch wie anhaltende Suizidgedanken, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie sexuelle Traumata. Allerdings erhöhen Impulsivität und Selbstverletzungen (ohne Suizidabsicht) der Analyse zufolge nur das Risiko für den ersten Versuch, nicht aber zusätzlich für den zweiten. Das würde bedeuten: In einer Gruppe von Menschen, die schon einen Versuch begangen haben, wäre es für die Einschätzung des Wiederholungsrisikos nicht wichtig, ob sich die Betroffenen weiter selbst verletzen und ob sie mehr oder weniger impulsiv sind.

Ältere Studien kamen hier zu anderen Ergebnissen. Unter anderem zählen sie zu den Risikofaktoren nicht nur verschiedene psychische Störungen wie Depressionen und Ängste, sondern auch Persönlichkeitsstörungen und emotionale Instabilität, die mit Impulsivität zusammenhängen. Die Bedeutung von Autoaggressionen belegte etwa eine Studie der Universität Jena. Demnach war das Wiederholungsrisiko bei Patientinnen und Patienten deutscher Kliniken, die schon mehr als einen Versuch unternommen hatten, am besten an ihrer Wut auf sich selbst und an Selbstvorwürfen erkennbar. Ausgelöst wurden die erneuten Versuche häufig durch Stresssituationen wie zwischenmenschliche Konflikte. Die Autoren erklären das mit impulsiven Reaktionen, bedingt durch eine verminderte Emotionskontrolle infolge von Traumata. Laut einer Analyse von schwedischen Zwillingsdaten hängt das Wiederholungsrisiko je rund zur Hälfte von Genen und Umwelteinflüssen ab, darunter vor allem Kindheitserfahrungen.

Ein weiterer Anhaltspunkt ist die gewählte Methode. In der zweiten aktuellen Studie verfolgte ein französisches Forschungsteam knapp 400 Fälle, die wegen eines Suizidversuchs an französischen Unikliniken behandelt worden waren. In den zwei Folgejahren versuchten es 26 Prozent erneut, darunter vermehrt jene, die depressiver waren und stärker zu Wut, Ängsten, Essstörungen und Alkoholmissbrauch neigten – und besonders diejenigen, die sich beim ersten Versuch mit Medikamenten selbst vergiften wollten.

Dieser Befund widerspricht anderen Statistiken, etwa aus Schweden. Von den knapp 50 000 Menschen, die dort zwischen 1973 und 1982 einen ersten Suizidversuch unternommen hatten, versuchten es bis 2003 im Mittel rund 12 Prozent erneut – aber 90 Prozent derer, die sich beim ersten Mal erhängen, strangulieren oder ersticken wollten. Auch in einer italienischen Stichprobe stieg die Wahrscheinlichkeit für einen zweiten Versuch, wenn beim ersten eine besonders gefährliche Methode gewählt wurde.

Eine mögliche Erklärung für die widersprüchlichen Befunde liegt in der Zusammensetzung der Stichproben. Zum Beispiel könnte sich die Methode der Selbstvergiftung in einer Psychiatriestichprobe deshalb als Risikofaktor erweisen, weil Schwerkranke eher über geeignete Medikamente verfügen, wie die Autoren schreiben. Zur Risikobeurteilung braucht es deshalb mehr als nur Faustregeln: Im Einzelfall kann die Wahl einer vergleichsweise harmlosen Methode auch ein schlechtes Zeichen sein.

Wege aus der Not

Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.

Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 08001110111 und 08001110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 08001110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per Mail von einem Peer beraten lassen.

Einige Befunde ähneln sich allerdings über viele Stichproben und Kulturen hinweg: Suizidversuche werden eher von jüngeren, arbeits- oder partnerlosen Menschen und häufiger von Frauen begangen. Männer greifen dagegen vermehrt zu härteren Methoden und überleben deshalb den Versuch seltener.

Mit mehr als 4000 Fällen pro Jahr sind drastische Methoden wie Erhängen, Strangulieren oder Ersticken in Deutschland seit Jahrzehnten die häufigsten Suizidarten. 2023 nahmen sich hier zu Lande mehr als 10 000 Menschen das Leben. Rund jeder dritte Überlebende eines Versuchs probiert es ein weiteres Mal, und zirka jeder zehnte stirbt in den Folgejahren von eigener Hand. Bei etwa 70 Prozent bleibt es jedoch bei nur einem Versuch. Wer Suizidgedanken hat, will nicht unbedingt sterben: Viele wollen lediglich nicht mehr so weiterleben wie bisher, haben aber keine Hoffnung, dass sich etwas ändern wird. Gewinnen sie die Hoffnung zurück, können die Suizidgedanken verschwinden.

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  • Quellen

Psychological Medicine 10.1017/S0033291724000904, 2024

Journal of Affective Disorders 10.1016/j.jad.2024.04.058, 2024

The Journal of Clinical Psychiatry 10.4088/JCP.20m13589, 2021

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