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Naturgesetze: Wie schön ist das Universum?

Über Jahrhunderte haben Menschen immer wieder den Kode erraten, in dem das Universum geschrieben ist. Aber nun scheinen sie in einer Sackgasse gelandet zu sein.
Farbiges Weltall

Für Steven Weinberg ist die Sache klar: Gute Physiker sind wie Pferdezüchter. Im Stall erkennen diese auf den ersten Blick, welches Tier Rennen gewinnen kann. Bei der Suche nach neuen Naturgesetzen ist es so ähnlich, findet der Nobelpreisträger: »Jahrhunderte der Erfahrung mit der Natur haben uns ein ästhetisches Gespür dafür eingemeißelt«, sagte er 2003 in einem Interview.

Weinberg weiß, wovon er spricht: 1967 war er maßgeblich daran beteiligt, die Theorie der »elektroschwachen Vereinheitlichung« auszuarbeiten. Ihre Gleichungen besagen, dass zwei der vier bekannten Grundkräfte im Universum – die schwache Kernkraft (die Atomkerne zerfallen lässt) und der Elektromagnetismus – bloß Facetten desselben Phänomens sind.

Soll heißen: Wenn man nur weit genug ins Innere der Materie hineinzoomt und Strukturen und Prozessen betrachtet, die gerade mal 10-18 Meter voneinander entfernt sind, kann man beide Kräfte nicht mehr voneinander unterscheiden.

Geistesblitz im Sportwagen

Inspiriert hatten Weinberg und seine Kollegen besondere mathematische Strukturen, so genannte Symmetriegruppen. Mit einem Kniff, der Weinberg in seinem roten Sportwagen auf dem Weg zur Arbeit einfiel, können sie alle Aspekte von schwacher Kernkraft und Elektromagnetismus passgenau erfassen.

Steven Weinberg

Das war zunächst nur ein schöner Gedanke. Aber bald darauf bestätigten Experimente an Teilchenbeschleunigern die elektroschwache Theorie – und machten Weinberg und zwei Kollegen 1979 zu Nobelpreisträgern.

Bis heute versuchen Physiker, an die Erfolge von damals anzuknüpfen. Mit großem Eifer suchen sie nach einem Weltmodell, das nicht nur zwei, sondern alle vier bekannten Kräfte auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen kann. Idealerweise würde sich diese Urkraft durch eine »Theorie von allem« oder eine Art »Weltformel« beschreiben lassen.

Aber die Physiker kommen diesem Ziel wenn überhaupt nur langsam näher. Seit einigen Jahren wirkt es sogar so, als wären sie irgendwo falsch abgebogen. Der weltgrößte Teilchenbeschleuniger, der Large Hadron Collider (LHC) bei Genf, hat zwar 2012 das Higgs-Teilchen entdeckt.

Trügerische Mathematik

Es ist der letzte fehlende Baustein des Gedankengebäudes, das Weinberg und dutzende andere Forscher in den 1970er Jahren entworfen haben, das »Standardmodells der Teilchenphysik«. Aber in den Detektoren des LHC sind keine Hinweise auf eine noch umfassendere Theorie aufgetaucht, obwohl Physiker fest damit gerechnet hatten.

Hat man also auf das falsche Pferd im Stall gesetzt? Ein neues Buch diskutiert diese Fragen schonungslos – und dürfte eine seit Langem schwelende Debatte in der Teilchenphysik-Community gehörig anfachen. »Lost in Math – How Beauty Leads Physics Astray« stammt von der Frankfurter Physikerin Sabine Hossenfelder, die sich seit Jahren einen Ruf als Kritikerin des Wissenschaftssystems erarbeitet hat.

Sabine Hossenfelder | Sabine Hossenfelder forscht am Frankfurt Institute for Advanced Studies zur Phänomenologie der Quantengravitation.

Die 41-Jährige forscht seit 15 Jahren auf dem Gebiet der Quantengravitation. So nennen Experten die Fachrichtung, welche Relativitätstheorie und Standardmodell zusammenbringen will, die beiden großen Säulen der modernen Physik.

Das Standardmodell beschreibt den Mikrokosmos als Wechselspiel von unsichtbaren Teilchen und Feldern, die vom Wahrscheinlichkeitscharakter der Quantenphysik dominiert werden. Drei der vier bekannten Kräfte (Elektromagnetismus, schwache und starke Kernkraft) finden in ihm Platz, von denen sich zwei dank der elektroschwachen Vereinheitlichung auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen lassen.

Mikrokosmos versus Makrokosmos

Die Schwerkraft hingegen fällt in die Domäne von Albert Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie. Mit ihr erfassen Physiker das große Ganze, also Menschen, Autos, Planeten und Galaxien. Ihr zufolge ist das, was wir Schwerkraft nennen, bloß eine mehr oder weniger starke Krümmung der Raumzeit.

Die Gravitation ist die schwächste aller Kräfte, dafür kann sie riesige Strecken überwinden. Bei Abständen von milliardstel milliardstel Metern, auf denen die Kernkräfte herrschen, löst sie normalerweise nicht mal ein schwaches Ziehen aus.

Aber was, wenn man ein Reich beschreiben will, in dem die Schwerkraft so stark wird, dass sie selbst im Mikrokosmos spürbar ist? Im Inneren von Schwarzen Löchern wäre das vermutlich der Fall, und auch direkt nach dem Urknall müsste die Schwerkraft der extrem dichten Materie in Konkurrenz zu den Kräften des Standardmodells getreten sein.

Für diese Situationen muss also eine Symbiose her, glauben Physiker. Eine übergeordnete Theorie von allem, aus der dann alle anderen Naturgesetze folgen. Das Problem ist, dass Quantentheorie und allgemeine Relativitätstheorie überhaupt nicht zusammenpassen. Teilchen und Wahrscheinlichkeiten hier, gekrümmte Raumzeit und Determinismus dort.

Wettstreit auf dem Reißbrett

Zwar gibt es mittlerweile mehrere Ideen für eine große Vereinheitlichung, von denen die Stringtheorie am weitesten entwickelt ist. Wirklich sicher, dass man damit der Wahrheit auf der Spur ist, sind sich Physiker aber nicht. Testen lassen sich Theorien der Quantengravitation allenfalls indirekt – schließlich kann niemand ins Innere eines Schwarzen Lochs sehen.

Das hält die Physiker jedoch nicht davon ab, immer neue denkbare Erweiterungen des Standardmodells zu erarbeiten. In den vergangenen Jahrzehnten ist ein ganzer Dschungel an Theorien gewachsen, die bisher unverstandene Aspekte der Wirklichkeit mit spekulativen Teilchen, Feldern, Kräften oder Raumzeitgeometrien erklären wollen.

Higgs-Boson | Im Juli 2012 gaben die Physiker am CERN bekannt, dass sie sehr deutliche Hinweise auf das Higgs-Boson gefunden hätten – ein Befund, der sich in der Zwischenzeit verfestigt hat.

Meist kann das Dickicht nur durch große und teure Experimente gelichtet werden. »Alle möglichen Hypothesen zu testen, ist unmöglich«, schreibt Hossenfelder in ihrem Buch. Der Großteil ihres Forschungsgebiets dreht sich daher darum, die guten von den schlechten Vermutungen zu trennen. So will man den Experimentatoren die Richtung vorgeben, in der sie nach neuen Phänomen suchen sollen.

Frust am Schreibtisch

Hossenfelder selbst hat ihren Schwerpunkt darauf gelegt, Theorien der Quantengravitation nach empirisch überprüfbaren Vorhersagen abzuklopfen. Seit Dezember 2015 macht sie das am Frankfurter Institute for Advanced Studies, zuvor hat sie am Nordita-Institut in Stockholm und am prestigereichen kanadischen Perimeter Institute geforscht.

Die Arbeit zur Quantengravitation ist ein Schreibtischjob, der viel Frust und Konkurrenz, aber wenig Anerkennung mit sich bringt. Mit den Jahren ist der Unmut der Physikerin immer größer geworden. Das kann man auf ihrem einflussreichen Blog nachlesen, auf dem Hossenfelder regelmäßig aktuelle Themen aus der Forschung aufgreift, sie erklärt und kommentiert. (Daneben schreibt sie populärwissenschaftliche Artikel, die auch schon in »Spektrum der Wissenschaft« erschienen sind.)

Hossenfelders Blogbeiträge sind pointiert und humorvoll, mitunter auch provokant. Besonders abgesehen hat sie es auf Kollegen, die spekulative Ideen gegenüber der Öffentlichkeit als Wahrheit verkaufen oder die mehr behaupten, als ihre Daten hergeben.

Trotz ihrer digitalen Sticheleien wird die Frankfurterin von Kollegen respektiert. In den vergangenen Monaten hat sie die Thesen ihres Buchs an mehreren deutschen Physikfakultäten vorgestellt und dort für rege Diskussionen gesorgt.

Dennoch dürfte mancher Kollege missmutig auf die Veröffentlichung blicken: In der Vergangenheit haben mehrere Bücher aus dem innersten Zirkel der Teilchenphysik berichtet und teilweise den Ruf der Physik als Zunft unfehlbarer Genies beschädigt.

Erbe der Stringtheorie-Kritiker

So starteten beispielsweise Lee Smolins »The Trouble with Physics« oder Peter Woits »Not Even Wrong« im Jahr 2006 einen Angriff auf die Stringtheorie. Die beiden Forscher warfen den Anhängern der Theorie vor, andere Forschungsansätze systematisch zu unterdrücken.

Maxwell-Gleichungen | Vier knappe Gleichungen genügen, um sämtliche Phänomene des Elektromagnetismus zu erfassen, von dem elektrischen Feld, das von einem Elektron ausgeht, bis hin zu den Magnetfeldern, die eine bewegte Ladung abstrahlt.

Hossenfelders Kritik ist sowohl smarter als auch grundlegender als die von Smolin und Woit: Statt die Dominanz einer einflussreichen Physikergruppe in Frage zu stellen, hält sie der gesamten Teilchenphysik-Community den Spiegel vor. Ihr Kernvorwurf: Bei der Suche nach neuen Theorien gehe die Gemeinschaft alles andere als wissenschaftlich vor. Stattdessen lasse sie sich von einem überholten Sinn für mathematische Ästhetik in die Irre führen – ganz in dem Glauben, dass schöne Pferde immer auch die schnellsten sind.

Sinnsuche einer Zweifelden

Hossenfelders Buch ist eine lesens- und beachtenswerte Lektüre für alle, die sich für den Stand der Teilchenphysik interessieren. Insgesamt wirkt »Lost in Math« dabei weniger wie die Schrift einer wütenden Bloggerin als die Sinnsuche einer Zweifelnden, die mit sich und ihrer Zunft hadert. Immer wieder fragt sie sich: Warum sehen die anderen Physiker nicht, was ich sehe? Bin es am Ende nur ich, deren Wahrnehmung verrücktspielt?

Folgerichtig sind die 304 Seiten weniger ein Gelehrtenmonolog als ein Reisebericht: Auf der Suche nach Antworten besucht Hossenfelder Schlüsselfiguren ihrer Forschungsdisziplin, darunter auch viele mit einer völlig anderen Meinung.

Schnell landen viele dieser Streitgespräche bei der Rolle der Schönheit. Gemeint sind jene Kriterien, die eine Theorie attraktiver machen als eine andere. Oft handelt es sich dabei jedoch nur um Kochrezepte, die früher einmal funktioniert haben, die aus Sicht der Kritikerin aber keine wirkliche wissenschaftliche Basis haben.

Einfachheit, Eleganz und Natürlichkeit

Da ist zum Beispiel das Kriterium der Komplexität. Je weniger griechische Symbole man benötigt, um neue Naturgesetze zu beschreiben, desto besser – darin sind sich Physiker eigentlich einig. So gilt die elektroschwache Theorie auch deshalb als großer Wurf, weil sie eine Vielzahl komplexer Phänomene auf eine vergleichsweise einfache mathematische Struktur zurückführen kann und dabei nur wenige lose Enden zurücklässt.

Andererseits wird beispielsweise die Stringtheorie wegen ihrer Schönheit bewundert, dabei handelt es sich um ein weitläufiges Theoriegebäude. Es setzt auf zahlreiche neue mathematische Konzepte und sieben zusätzliche Raumdimensionen, um Schwerkraft und Quantenkräfte miteinander in Einklang zu bringen.

Die Attraktivität der Stringtheorie geht daher aus Sicht von Physikern eher auf eine andere Eigenschaft zurück, auf Eleganz. Gemeint ist, dass Gleichungen ein überraschendes Element enthalten, etwa indem sie sich als viel weitreichender entpuppen als man auf den ersten Blick erwarten würde.

Als Paradebeispiel gelten die vier Gleichungen der Elektrodynamik, die James Clerk Maxwell im 19. Jahrhundert formulierte. Sie passen einerseits auf jeden Bierdeckel. Bei richtiger Anwendung beschreiben sie aber nicht nur die Felder, die von einer elektrischen Ladung ausgehen. Letztlich steckt tief in den Maxwell-Gleichungen auch die Erklärung für zahlreiche andere Phänomene, beispielsweise die Regeln, nach denen sich elektromagnetische Wellen ausbreiten.

Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten | Physiker setzen Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten in der Stringtheorie zur Beschreibung der Zusatzdimensionen ein: Sie sind sechsdimensional.

Schwieriger zu verstehen ist das Kriterium der »Natürlichkeit«. Damit meinen Physiker grob gesagt, dass eine Theorie keine unerklärbar großen oder kleinen Zahlen enthalten soll und vor allem keine Bezüge zu völlig anderen Größenordnungen aufweist.

Den Mikrokosmos kann man beispielsweise beschreiben, ohne Newtons Gravitationsgesetze heranzuziehen. Theorien, die nicht ohne solche Abhängigkeiten quer über dutzende Größenordnungen auskommen, bei denen es so wirkt, als ließen sich die Naturgesetze nur durch »Finetuning« erklären, gelten als »unnatürlich«.

Kriterien ohne wissenschaftliche Basis

Auf Basis dieser und anderer Eigenschaften beurteilt die Gemeinschaft der Teilchenforscher routiniert, welche Modelle für Physik jenseits des Standardmodells eine Chance haben, wahr zu sein. Hossenfelder ist das zunehmend suspekt: »Je mehr ich versuche, dieses Vertrauen in Schönheit nachzuvollziehen, desto weniger Sinn ergibt es für mich.«

Was viele ihrer Kollegen vergäßen: Mathematische Ästhetik habe Physiker schon oft in die Irre geführt. Beispielsweise im 16. Jahrhundert, als der Astronom Johannes Kepler die Bahnen der Planeten im Sonnensystem mit Hilfe ineinander verschachtelter platonischer Körper herleiten wollte. Oder Ende des 19. Jahrhunderts, als Physiker glaubten, Atome seien in Wahrheit winzige Wirbel, die sich mit Hilfe der eleganten Knotentheorie beschreiben lassen.

Sind die hässlichen Ideen real?

»Nicht nur wimmelt es in der Wissenschaftsgeschichte vor schönen Ideen, die falsch waren«, schreibt Hossenfelder. »Im Gegenzug haben sich auch die hässlichen Theorien als korrekt entpuppt.« Viele Naturgesetze würden nur deshalb als elegant empfunden, weil sich Menschen an sie gewöhnt hätten.

Beispielsweise die Quantenphysik, deren kruder Formalismus und bizarre Interpretation viele ihrer Gründerväter unglücklich zurückließ. Sogar James Clerk Maxwell sei an den nach ihm benannten Gleichungen verzweifelt, da sie nicht in das mechanistische Weltbild seiner Zeit passten. Für Hossenfelder belegen diese und andere Episoden, dass ästhetische Ansprüche bei der Suche nach neuen Naturgesetzen ineffektiv sind: »Sie funktionieren so lange, bis sie einen im Stich lassen.«

Eine andere Lesart

Die Wissenschaftsgeschichte gibt allerdings auch eine andere Lesart her: So war beispielsweise Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie bei ihrer Veröffentlichung 1915 zunächst nur ein elegantes, in sich stimmiges Gedankengebäude, das gut zu all dem passte, was Physiker damals über die Natur wussten. »Dem Zauber dieser Theorie wird sich kaum jemand entziehen können, der sie wirklich erfasst hat«, schrieb Einstein stolz.

Erst später wurde klar, dass er den richtigen Riecher besessen hatte. Mit Blick auf die Vergangenheit dürften die meisten Physiker also sagen: Ästhetische Kriterien funktionieren eben doch – auch wenn sie längst nicht immer zuverlässig sind und mitunter eher einem Bauchgefühl ähneln. Ein Bauchgefühl, das durch die Sozialisation mit dem bestehenden Naturgesetzkanon entstanden ist.

Symmetrie als Leitprinzip

Tatsächlich kann auch die Geschichte der Teilchenphysik als Beispiel herhalten, dass Physiker gut daran taten, dieser Strategie zu folgen, zumindest eine Zeit lang: Bei der Entwicklung des Standardmodells in den 1960er und 1970er Jahren spielten zur Mode gewordene Präferenzen eine Schlüsselrolle.

Allen voran war das ein viertes Schönheitskriterium neben Einfachheit, Eleganz und Natürlichkeit: So gut wie alle Wechselwirkungen im Standardmodell lassen sich aus Forderungen an ihre Symmetrie herleiten. Darunter verstehen Physiker, dass bestimmte Eigenschaften eines Teilchens oder Felds gleich bleiben, wenn sich sein Umfeld ändert – grob gesagt. Einen Ball kann man beispielsweise beliebig drehen, ohne dass ihm das etwas ausmacht, für Physiker ist er »rotationssymmetrisch«.

Ein enges Korsett

Nun gibt es in der Teilchenphysik deutlich abstraktere Symmetrien, die nur von Teilchen und Feldern mit klar definierten Charakteristika erfüllt werden. Wenn Physiker also den Erhalt einer Eigenschaft unter einer bestimmten Veränderung fordern, legen sie damit auch fest, welche Naturgesetze erlaubt sind. Oft ist dies ein sehr enges Korsett, in das nur ganz bestimmte Teilchen und Felder passen. Die Forderung der Rotationssymmetrie läuft beispielsweise darauf hinaus, dass nur runde oder punktförmige Objekte erlaubt sind.

Für Laien mag das abstrakt klingen, aber in der Teilchenphysik führte diese Strategie immer wieder zum Erfolg: Wundersamerweise hat sich gezeigt, dass man genau die uns bekannten Elementarteilchen und die beobachteten Wechselwirkungen des Mikrokosmos erhält, wenn man von den aus der Mathematik bekannten Symmetriegruppen U(1), SU(2) und SU(3) (und einigen anderen Annahmen) ausgeht.

Physiker elektrisiert diese Tatsache bis heute. Wie sehr, kann man in einem Buch nachlesen, das bereits 2015 erschienen ist: In »A Beautiful Question« präsentiert der amerikanische Physiker Frank Wilczek ein Plädoyer für die Schönheit unseres Universums. Wilczek hat 2004 für seine Beiträge zum Verständnis der starken Wechselwirkung zwischen Quarks den Nobelpreis erhalten, daneben veröffentlicht er nach wie vor viel beachtete Forschungsarbeiten.

Von den alten Griechen zum Standardmodell

In seinem Buch skizziert er mit mediativer Gelassenheit und Ostküsten-Lässigkeit die Höhepunkte der menschlichen Geistesgeschichte auf dem Weg zu einer Vereinheitlichung aller Kräfte, von den alten Griechen bis zum Standardmodell. Wenn man genau hinschaue, argumentiert Wilczek, stehe eine Form von Symmetrie im Kern aller Naturgesetze.

Frank Wilczek | Der Amerikaner erhielt 2004 den Physik-Nobelpreis für seine Beiträge zum Verständnis der starken Wechselwirkung, die Quarks in Atomkernen aneinanderkettet.

»Indem wir sie einfordern, können wir besondere Gleichungen entdecken«, führt er weiter aus. »Denn die allermeisten Gleichungen, die wir uns ausdenken können, sind eben nicht symmetrisch.« Dieses Prinzip verwirkliche letztlich einen Traum der alten Griechen: eine Natur, die auf Harmonie und konzeptueller Reinheit basiert.

Das Universum als Kunstwerk?

Der 67-Jährige ist zuversichtlich: Mit den grundlegenden Prinzipien des Standardmodells seien wir gewissermaßen auf den tief in der Mathematik verborgenen, künstlerischen Stil eines »Schöpfers« gestoßen (auch wenn Wilczek dieses Wort vermeidet). Das Universum sei daher eine Art Kunstwerk, das wir nur noch nicht ganz verstehen.

So weit würde Sabine Hossenfelder sicherlich nicht gehen. Aber auch sie kennt natürlich die Bedeutung von Symmetrieprinzipien in der modernen Physik. Vermutlich hätte sie sich deshalb noch vor zehn Jahren sehr genau überlegt, ob sie ihr Buch veröffentlichen will. (Noch heute hätten ihr mehrere gut meinende Freunde davon abgeraten, schreibt sie.)

Vor zehn Jahren sah es nämlich noch so aus, als stünde der Symmetriegedanke kurz vor seiner finalen Krönung: Im Jahr 2008 bereiteten sich die Naturforscher gerade auf den Start des LHC-Teilchenbeschleunigers am Genfer Kernforschungszentrum CERN vor. Mit der Maschine wollte man da weitermachen, wo Steven Weinberg und Kollegen in den 1970er Jahren aufgehört hatten.

Die Krönung des Symmetriegedanken?

Konkret waren viele Forscher überzeugt davon, mit dem LHC auf eine Theorie namens Supersymmetrie zu stoßen -oder auf andere auf Symmetrieprinzipien basierende Phänomene, die nicht vom Standardmodell erfasst werden.

Die Supersymmetrie, von ihren Fans liebevoll Susy genannt, würde darauf hinauslaufen, dass jedes bisher bekannte Elementarteilchen einen noch unbekannten Partner hat. Letztlich müsste die Natur also dutzende bisher unbekannte Partikelarten versteckt halten.

Der eigentliche Charme der Theorie bestünde aber in etwas anderem: Susy brächte die Physiker bei der Vereinheitlichung der Kräfte deutlich voran. Ihre Formeln besagen, dass bei winzigen Abständen von unvorstellbaren 10-30 Metern elektroschwache und starke Kraft auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen müssten, Physiker sprechen von der »großen Vereinheitlichung«.

Mit ihr wären bereits drei der vier Kräfte im Weltall auf ein gemeinsames Fundament gestellt. Susy ist außerdem eine Säule der Stringtheorie, mit der auch die Schwerkraft eingeflochten werden könnte. Physiker gehen davon aus, dass diese sich bei Distanzen von 10-35 Metern nicht mehr von den anderen Kräften unterscheiden lässt.

»Eine Verkörperung der Schönheit«

Viele der Supersymmetrie-Inkarnationen würden auch einen Teilchenkandidaten für die Dunkle Materie liefern, jene rätselhafte Substanz, die den Gang der Gestirne leitet, deren Wesen bisher aber völlig unbekannt ist. »Die Supersymmetrie wäre eine tiefschürfende neue Verkörperung von Schönheit in der Natur«, schreibt Frank Wilczek.

Aber bis heute hat der LHC keine Hinweise auf das elegante Theoriegebäude entdeckt. An anderer Front herrscht ebenfalls Flaute: So suchen Forscher seit 30 Jahren mit allerlei Detektoren nach den (nach wie vor hypothetischen) Teilchen der Dunklen Materie, bisher vergeblich. Und auch andere Experimente sind bei der Suche nach Phänomenen jenseits des Standardmodells immer wieder leer ausgegangen.

Lücken im Standardmodell

Gleichwohl sind die Physiker unzufrieden mit dem Status quo. So bleibt das Standardmodell unter anderem die Antwort schuldig, woher die Werte für gut 20 Parameter in den Gleichungen kommen. Sie müssen aufwändig gemessen werden und lassen sich nicht aus einer übergeordneten Theorie herleiten. Für die Physiker fühlt es sich also so an, als wäre ihr Werk unvollendet. »Wo wir Schönheit im Kern der Dinge entdeckt haben, sehnen wir uns nach mehr«, meint Wilczek.

Quark-Gluon-Plasma | In den ersten Augenblicken unseres Universums war die gesamte Materie in einem extrem heißen und dichten Plasma konzentriert, in dem verschiedene Quarks und Gluonen genannte Elementarteilchen frei durcheinanderfliegen.

Allerdings stammt die letzte erfolgreiche Vorhersage eines Teilchenphysik-Phänomens aus dem Jahr 1973, bemerkt Hossenfelder. Seitdem habe kein Experiment einen klaren Hinweis darauf gebracht, welche Gesetze die Natur jenseits des Standardmodells beschreiben. Daneben ist fraglich, ob es noch größere Teilchenbeschleuniger als den LHC geben wird. In der Vergangenheit wurden derartige Milliardenprojekte nur gefördert, wenn Politikern einleuchtete, dass man damit neue Phänomene aufspüren würde.

Durch das Ausbleiben neuer Physik am LHC fehlt den Wissenschaftler jedoch ein stichhaltiges Argument, wieso eine noch größere Maschine nötig ist. Vielleicht, unken einige der Forscher hinter vorgehaltener Hand, verbirgt sich in der Reichweite eines neuen Beschleunigers überhaupt nichts Spannendes. Es bliebe allenfalls eine vage Hoffnung auf neue Naturmechanismen, was zu wenig sein könnte für eine Investition dieser Größenordnung.

Jetzt wird es hart

Somit steckt die Teilchenphysik momentan in der wohl tiefsten Krise ihrer Geschichte: Ist die Menschheit vielleicht an dem Punkt angelangt, wo sich das Universum mit irdischen Mitteln nicht weiter entschlüsseln lässt? Hat die Natur einfach eine eher exotische Variante der Supersymmetrie verwirklicht, deren Superteilchen sich gerade außerhalb der Reichweite des LHCs verbergen? Oder stellen wir einfach die völlig falschen Fragen?

Die vielleicht größte Leistung von Hossenfelders Buch ist, dass sie diese Stimmung wie wenige vor ihr einfängt. In den Interviews bringt sie ihre Kollegen dazu, offenherzig Auskunft zu geben – wobei sich die Physikerin es sich nicht immer verkneifen kann, deren Aussagen unmittelbar ironisch zu kommentieren.

Mal ruft sie den Supersymmetrie-Experten Michael Krämer von der RWTH Aachen an, der freimütig zugibt, wie verwirrt er sich dieser Tage fühlt. Oder sie spricht mit Keith Olive von der University of Minnesota, der ziemlich zerknirscht sagt: »All die leichten Sachen haben wir gemacht. Jetzt wird es hart.«

Hossenfelder spricht auf ihrer Suche nach Antworten auch mit Frank Wilczek, den sie in einem Café in Arizona trifft. Im Gespräch mit der Frankfurter Forscherin findet der Nobelpreisträger deutlichere Worte als in seinem eigenen Buch: »Ich fange an, mir Sorgen zu machen«, sagt er mit Blick auf die bisherigen LHC-Ergebnisse.

Gegenwind aus Amerika

Unbeirrt gibt sich dagegen der einflussreiche US-Theoretiker Nima Arkani-Hamed, den Hossenfelder während eines Forschungsaufenthalts in Dänemark besucht. Dieses ganze Gerede über die Ästhetik der Physik sei ziemlicher Unsinn, schimpft er.

Es basiere im Kern auf einer populärwissenschaftlichen Fehlwahrnehmung. In Wahrheit sei es enorm schwierig, überhaupt überzeugende neue Theorien zu entwickeln, sagt Arkani-Hamed. Schließe bildeten sowohl die allgemeine Relativitätstheorie als auch das Standardmodell, die beide experimentell bestens überprüft sind, extrem rigide Leitplanken. »99,99 Prozent unserer Ideen werden nicht von neuen Experimenten ausgeschlossen, sondern von alten«.

Das Schreckgespenst des Postempirismus

Der Gedanke spielt eine Schlüsselrolle in Hossenfelders Buch, gewissermaßen als Schreckgespenst, vor dem sie und andere Kritiker eindringlich warnen: Ohne empirische Daten könnten Konsistenz und Ästhetik zu den einzigen Lotsen auf der Suche nach einer Weltformel werden. Und manchen Physikern könnten diese Kriterien bereits genügen, um eine hinreichend ausgearbeitete Theorie für wahr zu erklären.

Hinweise darauf sieht die Frankfurter Physikerin etwa in einem 2013 erschienenen Buch des Wissenschaftsphilosophen Richard Dawid, das großen Anklang in der Teilchenphysik-Community fand. Dawid argumentiert, dass Anhänger der Stringtheorie längst postempirische Argumente heranziehen, um die aufwändige Arbeit an ihrem bevorzugten Weltmodell zu rechtfertigen, und dass diese Argumentationslinie vertretbar ist.

Anhänger der Theorie verweisen beispielsweise darauf, dass es keine ähnlich überzeugende Alternative für eine Theorie der Quantengravitation gibt. Auch habe die Mathematik der Theorie ein festes Fundament, und aus den verwendeten Konzepten ergäben sich überraschende Konsequenzen, etwa in Form der Anwendung auf Phänomene in der Festkörperphysik.

Gilt eine Theorie von allem also irgendwann schon dann als wahr, wenn sie die einzige weit und breit ist, die keine Widersprüche zu etablierten Naturgesetzen hervorruft? »Der Gedanke bringt mich ins Schwitzen«, schreibt Hossenfelder.

»Ein schrecklicher Gedanke«

Sie findet letztlich Rückhalt mit ihren Zweifeln in dieser Frage, unter anderem bei Frank Wilczek. »Wir sollten uns nicht auf diesen Kompromiss einlassen«, sagt er. »Der Gedanke ist wirklich schrecklich.« Auch ein anderer großer Denker hadert mit dem Postempirismus: In Austin spricht Hossenfelder mit dem mittlerweile 85 Jahre alten Steven Weinberg.

»Am Ende glaube ich nicht, dass mathematische Konsistenz genug sein wird, um eindeutig eine Theorie von allem zu identifizieren«, gesteht der alte Weise der Physik. Insgesamt wirkt er auf Hossenfelder aber immer noch wie jemand, der davon ausgeht, dass die Physiker mit ihrem halbgottgleichen Verstand irgendwann dorthin finden.

»Oh, wie sehr ich das glauben möchte!«, schreibt sie. Aber sie könne es einfach nicht. Allein schon deshalb, weil der Blick auf die heutige Wissenschaft zu dieser Hoffnung nicht berechtige. Die Physik habe sich seit den Tagen von Weinberg stark verändert. Es gebe zwar immer mehr Wissenschaftler, aber sie widmeten sich zunehmend voneinander isolierten Problemen in dutzenden Nischendisziplinen.

CMS-Detektor | Das Compact-Muon-Solenoid-(CMS)-Experiment ist ein haushoher Teilchendetektor am LHC. Er war maßgeblich am Nachweis des Higgs-Bosons im Jahr 2012 beteiligt. CMS sollte auch Hinweise auf die Supersymmetrie finden, die bisher aber ausgeblieben sind.

Auch habe der ökonomische Druck und die Unsicherheit in der akademischen Welt zugenommen. Damit brächten immer weniger Forscher den Mut auf, an unpopulären Theorien zu arbeiten und potenziell visionäre Gedanken zu verbreiten. Dabei seien beispielsweise an der Basis der Quantenphysik noch wichtige Fragen offen, denen sich aber niemand widmen will, weil die Arbeit daran mühsam und glanzlos ist.

Generell fordert Hossenfelder mehr Selbstdisziplin von ihren Kollegen: Statt blind der Herde hinterherzurennen und möglichst schöne Luftschlösser zu entwerfen, sollten sie lieber bodenständige Modelle entwerfen, die eine Chance haben, mit bezahlbaren Experimenten überprüft zu werden.

»Es gehört zum Menschsein, Schönheit wertzuschätzen und dazugehören zu wollen«, schreibt sie. Aber damit einher gingen eben auch Wahrnehmungsverzerrungen, die bisher kaum beachtet würden. »Wir müssen uns unserem Menschsein stärker bewusst sein und die daraus erwachsenden Defizite korrigieren«, mahnt sie. Dazu müsse sich auch unserer Wissenschaftssystem wandeln – ein Katalog mit Vorschlägen bildet das Ende des Buchs.

Ein Gegenpol zum Optimismus

Letztlich wirft Hossenfelder viele wichtige Punkte auf und bietet en passant einen pointierten Überblick über die großen Probleme der modernen Physik. Vor allem bildet das Buch der Frankfurterin einen wichtigen Gegenpol zum nicht immer nachvollziehbaren Optimismus anderer Forscher der Disziplin.

Ihre Kritik der mathematischen Ästhetik überzeugt hingegen nur bis zu einem gewissen Punkt. »Schönheit ist einfach ein Mittel, um erfolgreiche Theorien zu entwickeln«, meint etwa Steven Weinberg. Vielleicht ist es momentan einfach nicht die richtige Form von Schönheit, die Physiker in neuen Gleichungen zu entdecken hoffen. Wonach sollte man auch sonst suchen?

Natürlich ist auch das Gegenteil denkbar. Mag sein, dass man Physiker und Pferdezüchter früher einmal vergleichen konnte. Ob das auch in Zukunft gilt, ob wir wirklich bereits den künstlerischen Stil eines mutmaßlichen Schöpfers lesen gelernt haben, muss sich hingegen noch zeigen. Vielleicht lässt sich die Beschaffenheit der Natur auch nur bis zu einem gewissen Punkt mit dem menschlichen Sinn für Ästhetik vereinbaren.

»Lost in Math« (englisch) ist am 12. Juni im US-amerikanischen Basic Books Verlag erschienen. Am 26. September erscheint unter dem Titel »Das hässliche Universum« eine deutsche Übersetzung im Fischer Verlag. Frank Wilczeks »A Beautiful Question« ist bisher nicht auf Deutsch erhältlich, aber englischsprachig im New Yorker Verlag Penguin Random House.

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