Kaiserschnitt: Wie sinnvoll ist die »Bakterien-Impfung« wirklich?
Wenn ein Baby den Geburtskanal seiner Mutter passiert, kommt es mit einer Vielzahl von Mikroben in Kontakt. Anders ist es bei Kaiserschnittbabys. Sie verpassen diese bakterielle »Taufe« und tragen dadurch ein höheres Risiko für bestimmte Krankheiten wie Asthma oder Fettleibigkeit. Das ist zumindest die Befürchtung mancher Forscher. Ob ihre Sorge berechtigt ist oder nicht, gilt jedoch nach wie vor als fraglich.
Gleich vier jüngst angelaufene klinische Studien könnten Antworten liefern. Vor allem erhoffen sich Experten neue Argumente in der Debatte um den Nutzen des künstlichen »vaginal seeding«. Dabei werden die per Kaiserschnitt geborenen Babys kurz nach der Geburt mit den Vaginalbakterien ihrer Mutter bestrichen. Was den Kindern ein natürliches Mikrobiom verleihen soll, ist in den Augen von Kritikern eine nutzlose oder sogar potenziell gefährliche Praxis.
Mindestens vier Forschergruppen – in den Vereinigten Staaten, Schweden und China – haben nun mit jeweils eigenen Experimenten begonnen, bei denen Hunderte von Kaiserschnittbabys mit den mütterlichen Mikroben betupft und anschließend medizinisch begleitet werden. Der Vergleich mit einer Kontrollgruppe soll zeigen, welche Auswirkungen das Verfahren hat. Jedes Team plant, seine Studienteilnehmer über mehrere Jahre zu beobachten. Im Fokus stehen dabei unter anderem das Gewicht der Kinder sowie etwaige Allergien.
Doch der Ansatz ist nicht unumstritten. Die Studien könnten die Kaiserschnittbabys einer Infektionsgefahr aussetzen oder sogar Mütter dazu ermutigen, den Abstrich auf eigene Faust vorzunehmen. Dabei sei sein Nutzen gar nicht bewiesen, meint Adam Ratner, Mikrobiologe an der New York University: »Mir ist nicht klar, welche Krankheiten überhaupt verhindert oder behandelt werden sollen.« Im schlimmsten Fall, sagt Ratner, »ist da ein Kind mit geringem Infektionsrisiko, dem man dann das Gesicht mit Herpes einschmiert«.
Kaiserschnittkinder haben ein anderes Mikrobiom
Die Idee, dass der Geburtsvorgang die Gesundheit des Kindes beeinflussen könnte, gewann vor allem seit dem Jahr 2010 an Bedeutung. Damals beobachtete die Mikrobiomforscherin Maria Gloria Dominguez Bello von der Rutgers University in New Brunswick, dass Kaiserschnittbabys eine andere Bakterienzusammensetzung tragen als vaginal geborene. Zudem ergab eine Studie, dass die im OP geholten Babys – immerhin mehr als 30 Prozent der Geburten in den USA – später anfälliger sind für Fettleibigkeit und Immunkrankheiten wie Diabetes.
»Im schlimmsten Fall hat man einem Baby das Gesicht mit Herpes eingerieben«
Adam Ratner
Könnten die Bakterien das lang gesuchte Bindeglied zwischen Geburtsmethode und späterer Gesundheit sein? Dominguez Bello und Kollegen halten das für gut möglich. Zumal auch Tierexperimente in diese Richtung weisen: Sie zeigen, dass Mäuse, die per Kaiserschnitt zur Welt kommen, anfälliger für Fettleibigkeit sind und ein geschwächtes Immunsystem haben. Anders als bei Studien an Menschen lassen sich im Tierversuch mögliche Störfaktoren, die das Krankheitsrisiko ebenfalls beeinflussen, besser ausklammern.
Trotzdem bleiben viele Fachleute bei ihrer Ansicht, dass es keine stichhaltigen Beweise für diese Annahme gibt. »Das ganze Konzept ist zurzeit einfach noch mit vielen Fragezeichen behaftet«, sagt David Aronoff, ein Forscher für Infektionskrankheiten an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. »Es ist nicht schwer, ein Argument zu finden, das von seiner Logik her ganz wunderbar klingt, aber trotzdem vielleicht auf einer dünnen Datenbasis steht.«
Klinische Studien sollen Antworten liefern
Unterschiede in der Mikrobenbesiedlung nach der Geburt und im späteren Gesundheitszustand könnten auch durch andere Faktoren verursacht werden, wendet Aronoff ein – etwa ob eine Mutter während der OP Antibiotika einnimmt, ob sie ihr Baby stillt oder ob es vielleicht eine genetische Prädisposition für Fettleibigkeit hat. Will man wirklich wissen, welche Auswirkungen die Geburtsmethode hat, gebe es nur einen Weg: genau die großen, randomisierten, kontrollierten klinischen Studien durchzuführen, die jetzt angelaufen sind.
Seit August 2018 rekrutiert das Team um Dominguez Bello insgesamt 50 schwangere Frauen, deren Kinder nach dem Kaiserschnitt mit den Mikroben der Mutter behandelt werden. Später soll die Teilnehmerzahl auf mehr als 600 Freiwillige ausgedehnt werden. Eine zweite US-Studie, die von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York City durchgeführt wird, sucht 120 schwangere Frauen, in deren Familie gehäuft Allergien auftreten. Auch hier werden die Forscher Kaiserschnittbabys mit dem mütterlichen Mikrobiom abtupfen und dann mit einer Placebogruppe und mit vaginal geborenen Säuglingen vergleichen.
Forscher in Schweden begannen im März 2019 mit einem ähnlichen Experiment. Ihr Ziel ist es, 100 Kaiserschnittkinder mit den vaginalen und analen Bakterien ihrer Mütter abzutupfen. Das Team des Gastroenterologen Lars Engstrand vom Karolinska-Institut in Stockholm, der die Studie leitet, wird die Babys über zwei Jahre hinweg auf Anzeichen von Asthma und Dermatitis überwachen. Und ein vierter Versuch in China begann im November 2018 mit der Rekrutierung von rund 100 Müttern. Wissenschaftler werden die Neugeborenen dieser Frauen mit Vaginalbakterien besiedeln und deren Body-Mass-Index und eventuelle Allergien aufzeichnen.
Erhöht das Abtupfen das Infektionsrisiko?
Die Teilnahme an der Studie werde das Infektionsrisiko der Kaiserschnittbabys nicht erhöhen, sagen die beteiligten Forscher. Zur Sicherheit wollen sie die Mütter rigoros auf Krankheitserreger wie HIV und Streptokokken der Gruppe B untersuchen. Letzteres ist ein verbreitetes Vaginalbakterium, das bei Neugeborenen Atemwegsprobleme verursachen kann. »Wir sind uns bewusst, dass wir hier sehr vorsichtig sein müssen«, sagt Engstrand, verweist allerdings auch darauf, dass sein Studiendesign die Freigabe durch eine Ethikkommission erhalten habe.
»Wir versuchen, etwas Natürliches wiederherzustellen«
Maria Gloria Dominguez Bello
Manche Kritiker überzeugt das nicht. Sie sind der Meinung, dass die Experimente nicht durchgeführt werden sollten – einfach weil es keine Beweise dafür gebe, dass das »Impfen« von Säuglingen mit den Bakterien ihrer Mütter einen Nutzen hat. Wenn Sie ein wissenschaftliches Experiment machen wollen, sagt Jeffrey Keelan, Gynäkologe an der University of Western Australia in Perth, »müssen Sie sicher sein, dass Sie den Mechanismus verstehen, dass das Ganze auf guter Wissenschaft basiert und dass Sie wissen, was wahrscheinlich funktionieren wird«.
Weil es inzwischen einen regelrechten Hype um die Methode gibt, fürchten Experten, dass Ärzte oder Mütter ihre Babys mit Vaginalmikroben einreiben – ohne ordnungsgemäße Untersuchung oder Aufsicht. Dass dies keine unbegründete Sorge ist, legen vereinzelte Berichte in Medien und medizinischen Fachzeitschriften nahe, denen zufolge immer wieder Frauen die Technik im Do-it-yourself-Verfahren ausprobieren. Laut den im Jahr 2017 veröffentlichten Richtlinien der größten gynäkologisch-geburtshilflichen Fachgesellschaft der USA, dem American College of Obstetrics and Gynecology, sollte das »vaginal seeding« jedoch ausschließlich im Rahmen klinischer Studien durchgeführt werden.
Außerdem, sagt die Gynäkologin Kjersti Aagaard vom Baylor College of Medicine in Houston, könnte die ausschließliche Konzentration auf das vaginale Mikrobiom wichtige neue Erkenntnisse verhindern. Ihrer Meinung nach beginne der Einfluss der Bakterien auf die spätere Gesundheit bereits vor der Geburt, da Faktoren wie die Ernährung der Mütter die Aufnahme von Bakterien beeinflussen. So aber übersähen Forscher womöglich »echte Möglichkeiten, die Gesundheit der Neugeborenen zu verbessern«, sagte sie im Juni 2019 auf dem Treffen der American Society for Microbiology in San Francisco, Kalifornien.
Die Teams hinter den neu angelaufenen Studien machen unbeirrt weiter. »Wir versuchen, etwas zu reparieren und teilweise wiederherzustellen, was natürlicherweise in der Umwelt der Neugeborenen vorkommt«, sagt Dominguez Bello. Wer herausfinden wolle, welche Rolle die Bakterien für die Gesundheit spielen, müsse eine kontrollierte Studie durchführen. Was stimmt und was nicht, »wird am Ende die Zeit zeigen – wie bei allem anderen auch.«
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