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Medien: Wir brauchen ein »Human Screenome Project«

Wer wissen will, wie Menschen digitale Medien nutzen, darf nicht allein die Bildschirmzeit messen. Es gilt, alles festzuhalten, was wir vor dem Display tun. Ein Kommentar.
Zwei junge Frauen und ein Einhorn kommunizieren auf dem Weg zum Kostümball mit sich und ihren Smartphones

Nie war die Angst größer vor den Folgen unserer Leidenschaft für Smartphone, Bildschirm und Co – schließlich erzeugen diese ein Dauerbombardement aus Social-Media-Updates, echten oder gefakten Nachrichten und Reklame, alles eingestrahlt in womöglich den Schlaf störendem Blaulicht. Die Sorge wächst, dass das Auswirkungen auf die geistige und körperliche Gesundheit hat, auf Bildung oder Beziehungen; vielleicht sogar auf Politik und die Demokratie. Erst 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation neue Richtlinien zur Begrenzung der Bildschirmzeit von Kindern vorgeschlagen, während der US-Kongress den Einfluss von Social Media auf politische Voreingenommenheit und Abstimmungen untersucht und Kalifornien ein Gesetz erlassen hat (die Assembly Bill 272), die es Schulen erlaubt, Schülern vorzuschreiben, wie lang sie das Smartphone dort benutzen dürfen.

Sämtliche Bedenken, die geäußert wurden, und alle ergriffenen Maßnahmen – also auch die von Wissenschaftlern, Gesetzgebern, Medizinern und Gesundheitsexperten sowie Interessengruppen – basieren auf der Annahme, dass digitale Medien, und gerade soziale Medien, das Verhalten der Menschen stark und ausnahmslos negativ beeinflussen. Empirisch nachzuweisen, was offen auf der Hand zu liegen scheint, hat die Forschung allerdings vor enorme Probleme gestellt. Genauso schwer ist es übrigens zu beweisen, dass die Bedenken unangebracht sind.

Dabei werden die Tausenden von Studien, die in den letzten zehn Jahren zu den Auswirkungen der digitalen Medien durchgeführt wurden, vor allem durch eines eingeschränkt: Die zu Grunde liegende Datenanalyse erfasst nicht, was die Menschen am Bildschirm tatsächlich sehen und tun – und vor allem nicht, ob sie die Dinge sehen und tun, die Ärzte, Gesetzgeber und Eltern vor allem beunruhigen. Die meisten Studien stützen sich auf Selbstauskünfte von Nutzern über ihre »Bildschirmzeit«: Die Teilnehmer schätzen also eigenständig, wie viel Zeit sie am Bildschirm oder auf Onlineplattformen verbringen, was dann als Nutzung von Smartphone, Fernsehen, soziale Medien, politische Nachrichten oder Unterhaltungsmedien kategorisiert wird. Allerdings entziehen sich die heutigen Medienerlebnisse oft einer derart vereinfachenden Charakterisierung. Das Spektrum der Inhalte ist zu breit, die Konsummuster zu fragmentiert, die jeweilige Informationsdiät zu spezifisch individuell, das Nutzererlebnis zu interaktiv und die Geräte zu mobil.

Handlungsanweisungen und Verhaltenstipps müssen aber auf einer exakten Analyse der tatsächlichen Mediennutzung beruhen. Dafür sollte erfasst werden, was Nutzer und Nutzerin bei ihrer Mediennutzung in jedem Augenblick gerade tun, während automatisiert aufgezeichnet wird, was auf den Bildschirmen im Moment wirklich erscheint.

Technisch ist es mittlerweile möglich, das digitale Leben in unerhörter Detailtiefe zu dokumentieren. Gerade ändern sich auch unsere Normen im Bezug auf das Teilen und die gemeinsame Nutzung von Daten. Wir haben mehr und mehr Erfahrung mit dem Sammeln und der Analyse großer Mengen von Daten – etwa aus dem Gebiet der Genomik – und lernen auch dazu, wie wir den Erwartungen und rechtlichen Rahmenbedingungen gerecht werden, die der Wunsch nach Datensicherheit und der Schutz der Privatsphäre an uns stellen. Also finden wir: Die Zeit ist reif für ein »Human Screenome Project« – eine kollektive Anstrengung, um all das aufzuzeichnen und zu analysieren, was Menschen auf ihren Bildschirmen sehen und tun.

Bildschirmzeit

Laut einer systematischen Übersicht und Metaanalyse haben in den letzten zwölf Jahren 226 Studien untersucht, wie die Mediennutzung mit dem psychischen Wohlbefinden zusammenhängt. Diese Studien berücksichtigen psychische Gesundheitsprobleme wie Angst, Depressionen und Selbstmordgedanken, aber auch den Grad der Einsamkeit, die Lebenszufriedenheit und die soziale Integration.

Die Metaanalyse fand fast keine systematische kausale Beziehung zwischen dem Grad der Exposition der Menschen mit digitalen Medien und ihrem Wohlbefinden. Allerdings fast alle dieser 226 Studien stützen sich auf Interviews oder Fragebögen, aus denen abgeleitet wurde, wie lange die Menschen beispielsweise am Tag zuvor in Social Media verbracht hatten.

Es ist erwartbar, dass jemand, der angibt, »viel auf Facebook« zu sein, in dieser Zeitspanne irgendwann tatsächlich mit Faktoren konfrontiert ist, die dann sein Wohlbefinden beeinflussen – zum Guten oder zum Schlechten. Allerdings könnte »Zeit auf Facebook« beinhalten, dass man die Aktivitäten seiner Freunde checkt. Oder dass man sich in ein Geschäftsmeeting einklinkt. Oder dass man Onlineshopping macht, Spenden sammelt, Nachrichtenartikel liest, jemanden mobbt oder sogar stalkt – alles sehr unterschiedliche Aktivitäten, die auch unterschiedliche Auswirkungen auf die Gesundheit und das Verhalten einer Person haben können.

Dazu kommt das Problem, dass Menschen sich wahrscheinlich gar nicht genau daran erinnern, wann sie eigentlich was getan haben. Jüngste Studien, die die Antworten auf Umfragen mit den Verhaltensprotokollen von Computern verglichen haben, zeigen, dass die Menschen die Medienpräsenz sowohl zu wenig als auch zu viel einschätzen – und dabei oft um bis zu mehrere Stunden pro Tag abweichen. In der komplexen Medienlandschaft von heute sind Umfragen über den Monat davor, ja sogar über den gestrigen Tag nahezu nutzlos. Wie oft haben Sie eigentlich gestern auf Ihr Telefon geschaut?

Die US National Institutes of Health (NIH) geben derzeit 300 Millionen US-Dollar für eine umfangreiche Studie über Neuroimaging und die Entwicklung von Kindern aus, an der am Ende mehr als 10 000 Neun- und Zehnjährige teilnehmen werden. Untersucht werden soll unter anderem, ob die Mediennutzung einen Einfluss auf das Gehirn und die kognitive Entwicklung hat. Das Wie und Wann der Nutzung wird dabei recht simpel dadurch erfasst, dass die Teilnehmer separat Kategorien von geöffneten Anwendungen zu einer Liste von fünf Standardzeitbereichen zuordnen, und das jeweils für Wochentage und Wochenenden. (Der erste Bericht über die Mediennutzung aus dieser Studie ist 2019 veröffentlicht worden: Dabei zeigte sich, dass es bei computergestützten Aufgaben einen geringen oder keinen Zusammenhang zwischen der Medienexposition und den erfassten Hirnmerkmalen und kognitiven Leistungen gibt.

Digitales Leben

Wissenschaftler müssten stattdessen bis ins kleinste Detail erfassen, mit welchen Medien die Menschen am Monitor sich eigentlich beschäftigen. Welche Plattformen nutzen sie, welche Inhalte sehen und erstellen sie? Wie wechseln sie zwischen den Plattformen und vom Content der einen zum Inhalt der anderen? Wie entwickelt sich die Dynamik ihrer Auseinandersetzung mit verschiedenen Medienformen von einem Augenblick zum nächsten?

Die Wissenschaft bräuchte, anders ausgedrückt, eine mehrdimensionale Karte des digitalen Lebens. Zur Veranschaulichung: Menschen neigen dazu, ihre Laptops und Smartphones durchschnittlich alle 10 bis 20 Sekunden zu benutzen. Nützlich wären Metriken, die quantifizieren, wie die Nutzer innerhalb einer Sitzung zwischen Mediensegmenten wechseln – und am Ende dann vom digitalen Medium wieder in die reale Welt. So könnte man die tatsächlichen Nutzungsmuster in feiner aufgelösten Zeitskalen darstellen. Eine Sitzung beginnt dabei, wenn der Bildschirm aufleuchtet, und endet, wenn er abdunkelt. Das dauert manchmal nur eine Sekunde – etwa wenn der Nutzer nur die Uhrzeit per Smartphone checkt. Manchmal vergeht mehr Zeit: Am Anfang antwortet man auf den Beitrag eines Facebook-Freundes, um dann eine Stunde später einen Link zu einem Artikel über Politik anzuklicken.

Wie oft haben Sie eigentlich gestern auf Ihr Telefon geschaut?

Zudem muss eine typische Streunutzung der Inhalte berücksichtigt werden, wenn man Medienkonsum analysieren möchte. Die Technik erlaubt uns heute, früher als Ganzes erlebte digitale Inhalte (etwa einen Film, eine Nachrichtensendung oder das Gespräch mit Bekannten) in kleinste Häppchen zu zerteilen und dann nach und nach in mehreren Sitzungen über Stunden oder Tage hinweg abzufrühstücken. Wir brauchen zudem geeignetes Handwerkszeug, um die Inhaltskategorien der Mediennutzung genauer unterscheiden zu können: Werden Politiknachrichten oder Gesundheitsinformationen konsumiert, Beziehungen gepflegt oder wird gearbeitet? Noch besser wäre es, die Inhalte aus solchen unterschiedlichen Kategorien in zusammenhängenden Nutzungssequenzen zu analysieren. Womöglich scheinen sie für den einen Nutzer nicht sinnvoll verknüpft, sind es für den anderen aber durchaus.

Der Komplexität versuchen einige Forscher seit Neuestem mit Logging-Software Herr zu werden. Diese ist vor allem entwickelt worden, um Marketingexperten mit Informationen darüber zu versorgen, welche Webseiten sich die Menschen ansehen, wo sie sich befinden oder wie viel Zeit sie mit verschiedenen Anwendungen verbringen. Die so gesammelten Daten zeichnen zwar insgesamt ein detaillierteres und exakteres Bild als die Selbstauskunft der Nutzer – sie informieren allerdings auch nicht darüber, was die Menschen in einzelnen Momenten gerade sehen und tun.

Ein besserer Weg

Um aufzeichnen zu können, was sich von Moment zu Moment auf dem Bildschirm von Nutzern tut, haben wir eine Software-Plattform namens »Screenomics« aufgebaut. Sie produziert auf eingeschalteten Geräten alle fünf Sekunden, ohne die Nutzer zu stören, Screenshots und überträgt diese dann verschlüsselt. Dabei kann sie auf mehreren Geräten des Nutzers gleichzeitig aktiv sein und ermöglicht es, die Screenshots zeitlich zu synchronisieren.

© Video produced by Sarah Chey, Stanford University
Screenomics im Blick

Dieser Ansatz der Mensch-Computer-Interaktionsanalyse unterscheidet sich von früheren Versuchen, in denen man zum Beispiel auf Smartwatches oder Fitnesstracker in Kombination mit vom Nutzer geführten Interaktionstagebüchern gesetzt hat: Wir erhalten genauere und plattformübergreifende Nutzungsdaten mit mehr Messpunkten. Eine nächste Generation der Software soll Aufzeichnungen im Sekundentakt liefern. Wir haben aber auch jetzt schon mehr als 30 Millionen Screenshots von mehr als 600 Personen gesammelt. An zwei dieser von uns »Screenome« getauften Datensammlungen wird bereits deutlich, was man aus dem feinkörnigen Blick auf Mediennutzung lernen kann.

Unter dem Mikroskop

Die gesammelten Smartphone-Daten von zwei 14-jährigen Smartphone-Besitzern aus einer Ortschaft in Nordkalifornien zeigen, was man aus einer feinkörnigen Analyse der Mediennutzung lernen kann (siehe auch Infografik »Ein Blick auf Details«).

Häufigkeit

Eine typische Forscherfrage wäre, ob die Studienteilnehmer ihr Telefon oft oder selten benutzen. Bei Umfragen nach dem gängigen Schema hätten beide Jugendlichen ihre Telefonnutzung vielleicht als »ziemlich häufig« charakterisiert. Sie würden wohl angegeben haben, ihre Smartphones »jeden Tag« für »zwei oder mehr Stunden« benutzt zu haben, und dass der Blick auf ihr Telefon jeden Morgen das Erste und jeden Abend das Letzte gewesen war, was sie getan haben. Tatsächlich aber machen die detaillierten Aufzeichnungen ihrer Telefonnutzung über drei Wochen im Jahr 2018 dramatische Unterschiede deutlich: Bei Teilnehmer A lag die mittlere Nutzung über die drei Wochen bei 3,67 Stunden pro Tag. Für Teilnehmer B waren es 4,68 Stunden, also eine Stunde (27,5 Prozent) mehr.

Muster

Ein noch größerer Unterschied fällt zu der Verteilung der Zeiten auf, bei denen die beiden Teenager tagsüber zu ihrem Telefon gegriffen hatten. Im Durchschnitt summierte sich die Gesamtnutzungsdauer bei Teilnehmer A aus 186 Sitzungen pro Tag (wobei eine Sitzung als das Intervall zwischen dem Aufleuchten des Bildschirms und dem späteren Abdunkeln definiert wurde). Für A dauerten die Sitzungen im Durchschnitt 1,19 Minuten. Teilnehmer B kam dagegen im Durchschnitt auf 26 tägliche Sitzungen, die gemittelt 2,54 Minuten dauerten. Also schaltete einer der Jugendlichen sein Telefon siebenmal öfter als der andere ein und aus und benutzte es in kurzen Abständen, die etwa ein Drittel der Dauer der Sitzungen des anderen waren. Solche Muster könnten wichtige psychologische Unterschiede signalisieren: Die Tage von Teilnehmer A waren stärker fragmentiert, was vielleicht auf Probleme mit der Aufmerksamkeitskontrolle hinweist – oder vielleicht die Fähigkeit widerspiegelt, Informationen schneller zu verarbeiten.

Interaktivität

Beide Jugendlichen verbrachten Zeit damit, Inhalte zu erstellen und sie zu konsumieren: Sie schrieben Textnachrichten, nahmen Fotos und Videos auf, gaben Suchbegriffe ein und so weiter. In einem typischen Fragebogen hätten beide gut berichten können, dass sie »manchmal«, vielleicht auch »oft« Originalmaterial eingestellt haben. Die Screenshot-Daten spiegeln allerdings Muster der Interaktion wider, an die sie sich im Nachgang mit großer Wahrscheinlichkeit nicht genau hätten erinnern können. So verbrachte Teilnehmer A etwa 2,6 Prozent seiner Bildschirmzeit damit, Inhalte zu produzieren oder bereitzustellen – was er meist gleichmäßig über den Tag verteilt und meist innerhalb von Social-Media-Apps tat. Im Gegensatz dazu verbrachte Teilnehmer B sieben Prozent der Nutzungsdauer produktiv (und produzierte dabei rund 2,5-mal mehr als A). Beide Teilnehmer waren aber vor allem abends aktiv – beim Ansehen von Videos.

Inhalt

Während der drei Wochen hielten 26 verschiedene Anwendungen Teilnehmer A beschäftigt. Mehr als die Hälfte davon (53,2 Prozent) waren Social-Media-Apps (meist Snapchat und Instagram). Teilnehmer B nutzte 30 verschiedene Anwendungen, hauptsächlich Youtube (50,9 Prozent der Gesamtzahl). Ein tieferer Einblick in bestimmte Bildschirminhalte offenbart weitere Details: Bei Teilnehmer B war auf 37 Prozent der Screenshots für einen einzigen Tag Essen zu sehen: Bilder von Lebensmitteln von verschiedenen Websites, Fotos von Bs eigenen Mahlzeiten, Videos von anderen Menschen, die essen oder kochen, und Lebensmittel, die in einem Spiel mit dem Betrieb eines virtuellen Restaurants gezeigt wurden. In einer Umfrage könnten beide Jugendliche berichtet haben, dass sie »viele« Apps benutzt haben, und vielleicht auch die Namen einiger von ihnen genannt haben. Der Inhalt ihrer Mediendiät wäre allerdings unmöglich zu erfassen.

Der höher aufgelöste Einblick in die Mediennutzung könnte lang gestellte Fragen beantworten helfen – und neue Rätsel aufwerfen. Womöglich stellt sich heraus, dass Wohlbefinden mit der fragmentierten Mediennutzung der Menschen zusammenhängt oder aber mit den Inhalten, mit denen sie sich beschäftigen. Vielleicht verändern sich Hirnstrukturen bei den Menschen abhängig davon, wie rasch Zyklen von Aktionen und Konsum von Inhalten aufeinander folgen. Unterschiede in der kognitiven Leistungsfähigkeit könnten mit der Art des Multitaskings einer Person zusammenhängen – also der Beobachtung, dass sie schnell zwischen Inhalten wechselt (von Politik zu Gesundheit) oder zwischen Anwendungen (von Social Media zu Spielen); oder davon, wie viel Zeit sie für den Zwischenstopp einlegt, bevor sie wieder wechselt.

Das Human Screenome Project

Was also wäre eine bessere Herangehensweise? Ein kollektiver Ansatz tut not: Wir müssen alles aufzeichnen und analysieren, was Menschen auf ihren Bildschirmen sehen und tun, dies zeitgenau in richtiger Reihenfolge und verknüpft mit Metadaten, die die Software von den Sensoren der Geräte sammelt – was dann Informationen über Tageszeit und Aufenthaltsort bis hin zur Geschwindigkeit von Tastenanschlägen liefert.

Menschen nutzen digitale Medien sehr unterschiedlich

Screenshots sind dabei die Basiseinheit der Mediennutzung jedes einzelnen Screenomes, was in diesen Screenomes aber besonders wertvoll und aussagekräftig ist, hängt (wie bei anderen »-omes« auch) aber von der gestellten Frage ab. Möchte man den Blick zum Beispiel auf ein mögliches Suchtverhalten bei der Nutzung von mobilen Geräten richten, dann könnte es sinnvoll sein, Erregungsreaktionen zu messen (vielleicht einen Herzfrequenzanstieg), die mit der Gerätenutzung einhergehen. Andere Daten zu analysieren könnte entscheidend sein, ob das soziale Beziehungsgeflecht die Bewertung von politischen Ereignissen bestimmt. Vielleicht existieren Screenshots an der Schnittstelle von »sozialen« und »politischen« Fragmenten der Screenome-Sequenz: Ein von Freunden geteilte Nachrichteninhalt mag zum Beispiel als vertrauenswürdiger empfunden werden als dieselbe Nachricht, die unabhängig eintrudelt.

Aber wie können Forscher Zugang zu solch hochauflösenden Daten erhalten? Und wie können sie die Bedeutung von Datensätzen mit Millionen von Screenshots extrahieren? Eine Möglichkeit besteht darin, dass die Wissenschaftler mit den Unternehmen zusammenarbeiten, die diese Daten schon besitzen – und die bereits ausgeklügelte Methoden entwickelt haben, um das digitale Leben der Menschen zumindest in bestimmten Bereichen zu dokumentieren. Sprich: Google, Facebook, Amazon, Apple und Microsoft. Tatsächlich sieht das 2018 an der Harvard University eingerichtete Programm »Social Science One« vor, dass Akademiker genau zu diesem Zweck Partnerschaften mit Unternehmen eingehen. Forscher können auf Wunsch bestimmte anonymisierte Facebook-Daten nutzen, um beispielsweise Social-Media- und Demokratieprozesse zu untersuchen.

Solche Kooperationen haben eine Kehrseite, wenn die großen privatwirtschaftlichen Kooperationspartner Datenlecks befürchten oder Studienergebnisse erwarten, die sich womöglich negativ auf deren Geschäft auswirken können. In solchen Fällen könnten schwierige Kompromisse gefragt sein, wenn man Ziel und Fragestellung der Forschung umdefinieren muss oder wenn man bestimmte Datensätze nicht bereitgestellt bekommt. Zudem sind langwierige und rechtlich aufwändige Verwaltungsprozesse nicht zu vermeiden.

Mehr Forscherfreiheit bekommen Akademiker nur, wenn sie die Daten selbst sammeln. Das müssen sie ohnehin, wenn sie Fragen aufgreifen, die innerhalb kurzer Zeit beantwortet werden müssen – etwa wenn besser eingeordnet werden soll, wie sich ein Terroranschlag, ein politischer Skandal oder eine katastrophale Finanzkrise auswirken. Screenomics und ähnliche Plattformen machen das glücklicherweise möglich.

Nach unserer Erfahrung sind Menschen übrigens durchaus bereit, ihre Daten mit der Wissenschaft zu teilen. Größere Probleme stellt die berechtigte Sorge, dass dabei die Privatsphäre nicht gesichert und eine Überwachung durch unerwünschte Dritte nicht ausgeschlossen werden kann. Es ist aber möglich, Screenshots durch Maßnahmen wie Verschlüsselung, sichere Speicherung und De-Identifizierung unter Beachtung der Privatsphäre zu sammeln. (Unsere eigenen Projektvorschläge werden von universitären Prüfungskommissionen abgesegnet, die zum Schutz von Teilnehmern an den Projekten eingerichtet wurden.) Die Sozialwissenschaft kann sich zudem einiges von den schon etablierten Praktiken zum Schutz von gemeinsamen genutzten elektronischen Krankenakten oder von Gendaten abschauen.

Screenomics-Daten sollten mit einer großen Bandbreite unterschiedlicher Ansätze durchforstet werden, die von tief bohrenden Analysen der Datenqualität bis hin zu Algorithmen reichen, mit denen verborgene Strukturmuster erkannt und klassifiziert werden. Menschen wechseln bei der Mediennutzung ungemein rasch von Bildschirm zu Bildschirm, weshalb Studien Änderungen des individuellen Nutzerverhaltens über einen bestimmten Zeitraum hinweg in den Blick nehmen müssen. Gleichzeitig sollte man sich auch auf Unterschiede zwischen einzelnen Nutzern und Nutzergruppen fokussieren. Letztlich werden die Forscherinnen und Forscher dann in der Lage sein einzuschätzen, wie sich momentan ändernder Input auf den physiologischen und psychologischen Zustand auswirkt. Zudem könnte die soziologische Dynamik von zwischenmenschlichen Beziehungen und Gruppenbeziehungen über Tage und Wochen hinweg untersucht werden – und sogar kulturelle und historische Veränderungen, die sich über Monate und Jahre aufbauen.

Man könnte einwenden, dass Screenomics-Daten derart feinkörnig sind, dass Forscher versucht sind, sich auf Kleinigkeiten statt auf das große Ganze zu konzentrieren. Wir würden entgegenhalten, dass es bei der heutigen Digitaltechnik eben vor allem um diffuse Erfahrungsschnipsel geht. Durch den vorgestellten Ansatz wäre es zudem möglich, in Detailebenen hinein- und wieder hinauszuzoomen, um zu untersuchen, wie Screensomics-Details mit den Gesamtbild zusammenhängen. Man könnte auch argumentieren, dass mit unserem besseren Mikroskop auch nichts Wesentliches aufzuspüren ist. In dem Fall, wenn also weiter kein oder bestenfalls ein schwacher Zusammenhang zwischen der Mediennutzung von Menschen und ihren Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen nachzuweisen ist – in diesem Fall könnten wir zumindest mit größerer Zuversicht annehmen, dass die aktuellen Bedenken übertrieben sind.

Unser vorgeschlagener Ansatz ist komplex, übersteigt aber zum Beispiel nicht die Komplexität der gängigen Methoden zur Bewertung eines genetischen Einflusses auf psychische und physische Zustände oder das Verhalten. Viele Jahre und Milliarden von US-Dollar wurden in andere »-omics«-Projekte investiert. In der Genomik, den Neurowissenschaften, der Planetenforschung oder der Teilchenphysik, haben sich Regierungen und private Geldgeber dazu entschlossen, Forscher zu unterstützen – mit dem Ziel, die richtigen Daten zu sammeln und sie Wissenschaftlern weltweit zugänglich zu machen. Heute, wo sich derart große Abschnitte unseres Lebens auf unseren Bildschirmen abspielen, wäre dieser Ansatz in den Medienwissenschaften ebenso wertvoll.

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