Bemannte Raumfahrt: Wissenschaft ohne Gewicht
Am 28. Mai 2011 ist die ISS offiziell fertiggestellt worden - nach zwölf Jahren Bauzeit und Kosten von rund 100 Milliarden US-Dollar. Zeit für eine kleine Inventur und einen Blick in die Zukunft.
Da waren zahllose Shuttleflüge zur Internationalen Raumstation, kaputte Klos bereiteten den Astronauten an Bord Sorgen und ebenso Weltraumschrott, der die ISS bedrohte – von Forschung in der Schwerelosigkeit hat man in den Medien dagegen wenig mitbekommen. Eigenartig, denn immerhin fanden in den vergangenen zehn Jahren mehr als 600 Experimente an Bord statt – aus der Astronomie und Physik über die Medizin und Biologie bis hin zur Materialforschung. An insgesamt 56 Projekten – davon 38 abgeschlossen – waren und sind auch deutsche Forscher beteiligt.
Die ersten Versuche
So auch am allerersten wissenschaftlichen Experiment auf der ISS: dem deutsch-russischen Plasmakristallexperiment Nefedov, das im März 2001 in Betrieb ging. Man studierte, wie sich mikrometergroße Plastikkügelchen in einem Plasma – ein Gemisch aus positiv geladenen Atomen und freien Elektronen – verhalten. Die Partikel werden in diesem ionisierten Gas elektrostatisch aufgeladen und treten miteinander in Wechselwirkung. Je nach Gasdruck und anliegendem elektrischen Feld verhält sich dieses so genannte komplexe Plasma wie ein Gas, wie eine Flüssigkeit oder sogar wie ein Kristall. Mit dem Unterschied, dass die Wissenschaftler im schwerelosen Modellsystem jedes "Atom" einzeln verfolgen konnten – und das in 3-D.
Altern im All
Nur für einige Tage im Jahr ist der Versuch in Betrieb, jeweils etwa rund 90 Minuten lang. Dann sind Mierk Schwabe und ihre Kollegen im russischen Kontrollzentrum nahe Moskau und können via Satellitenübertragung live zuschauen, wenn der Kosmonaut ihr Experiment durchführt. Vor der Mission hat er auf der Erde an einem baugleichen Trainingsmodell geübt. Ist die Messreihe beendet, wird der Versuchsaufbau wieder abgebaut und in der ISS verstaut. Bis die Daten allerdings auf dem Schreibtisch der Forscher landen, können einige Monate vergehen – die Festplatten mit den auf Film gebannten Messergebnissen bringen die Raumfahrer höchstselbst mit zur Erde, in diesem Fall nach Russland.
Ein großer Vorteil dabei: An Bord der ISS lassen sich extrem kontrollierte Bedingungen realisieren, denn alles, was die Astronauten an Nahrung zu sich nehmen und was sie wieder ausscheiden oder -schwitzen, wird protokolliert. "So kann man eine hochpräzise Bilanz aufstellen, in der man – salopp gesagt – sehen kann, wo jedes Molekül bleibt", erklärt Günther Ruyters vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Bonn, das alle deutschen Forschungsaktivitäten auf der ISS koordiniert. "Dabei lernen wir nicht nur, wie wir die Astronauten fit halten, sondern erfahren auch unheimlich viel über den menschlichen Körper im Allgemeinen. Dieses Wissen fließt dann zum Beispiel in die Entwicklung von neuen nichtinvasiven Diagnosegeräten, Therapien oder Rehamaßnahmen und kommt somit auch den Menschen auf der Erde zugute."
Viel zu tun, wenig Zeit
An spannenden Experimenten mangelte es auf der Raumstation also sicher nicht, eher an der Zeit, diese durchzuführen. Nachdem im Jahr 2003 die Raumfähre Columbia verunglückte, war die Station lange Zeit nur mit drei statt sechs Astronauten besetzt. "Die ersten Jahre muss man deshalb unter einem anderen Blickwinkel sehen, was die Möglichkeiten der Forschung angeht", sagt Ruyters. "Von den drei Astronauten waren im Grunde zweieinhalb für technische Dinge, Wartung, Aufbau und so weiter notwendig und ein halber konnte Forschung betreiben."
Bemannt oder unbemannt?
Mit rund 100 Milliarden US-Dollar ist die ISS mehr als doppelt so teuer wie anfangs geplant. Jeder Cent lohnt sich, sagen wohl die beteiligten Wissenschaftler, bietet die ISS doch im Gegensatz zu Parabelflügen oder Forschungsraketen eine dauerhafte Forschungsmöglichkeit in der Schwerelosigkeit. Zudem können Astronauten und Kosmonauten im Bedarfsfall eingreifen und improvisieren, sollte mal etwas nicht wie gewünscht funktionieren – ein klarer Vorteil gegenüber unbemannten Missionen. "Und generell kann man auch nicht behaupten", so Ruyters, "dass die bemannte Raumfahrt teurer ist als die unbemannte Raumfahrt."
Diese Ansicht teilen allerdings längst nicht alle Wissenschaftler: "Laut unserer Experten erscheint es kostengünstiger und unter Umständen auch sinnvoller, naturwissenschaftliche Experimente im Weltraum durch Roboter statt durch Menschen ausführen zu lassen", sagt Wolfgang Sandner, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Auch wenn Menschen in bestimmten Situationen sicher flexibler seien als Maschinen, wären Roboter in der Summe eben doch die bessere Wahl, um Experimente im Weltall durchzuführen.
Zukunft der ISS
Für die Internationale Raumstation wurde die Wahl bereits vor Jahrzehnten getroffen und auch die DPG ist dafür, die Forschungsplattform bis zum Ende der Nutzungsdauer – jüngst ausgeweitet bis auf das Jahr 2020 – zu betreiben. "Es gibt noch eine ganze Reihe von ausgewählten Projekten, die in den kommenden Jahren durchgeführt werden sollen", berichtet Ruyters. Von deutscher Seite plane man jedenfalls das Ungleichgewicht zwischen Lebenswissenschaften und Physik zu Gunsten der Physik zu verschieben – etwa mit Experimenten zu Materialdesign, Flüssigkeitsströmungen oder an ultrakalten Atomen.
Derzeit werden bereits 70 Projekte mit deutscher Beteiligung vorbereitet. Und wer weiß, vielleicht bleibt die ISS den Wissenschaftlern auch noch bis 2028 erhalten – vorausgesetzt sie ist noch in der technischen Verfassung dazu. Die Leiter der an der ISS beteiligten Raumfahrtagenturen hatten bei ihrem letzten Treffen im März 2011 jedenfalls schon mit diesem Gedanken gespielt.
Maike Pollmann
Die ersten Versuche
So auch am allerersten wissenschaftlichen Experiment auf der ISS: dem deutsch-russischen Plasmakristallexperiment Nefedov, das im März 2001 in Betrieb ging. Man studierte, wie sich mikrometergroße Plastikkügelchen in einem Plasma – ein Gemisch aus positiv geladenen Atomen und freien Elektronen – verhalten. Die Partikel werden in diesem ionisierten Gas elektrostatisch aufgeladen und treten miteinander in Wechselwirkung. Je nach Gasdruck und anliegendem elektrischen Feld verhält sich dieses so genannte komplexe Plasma wie ein Gas, wie eine Flüssigkeit oder sogar wie ein Kristall. Mit dem Unterschied, dass die Wissenschaftler im schwerelosen Modellsystem jedes "Atom" einzeln verfolgen konnten – und das in 3-D.
Die Versuche brachten beispielsweise neue Einsichten in die Festkörperphysik, aber auch Prozesse in interstellaren Gas- und Staubwolken, wie die Bildung von Planeten, ließen sich anhand von komplexen Plasmen nachvollziehen. Inzwischen ist auf der ISS längst das Nachfolgelabor PK-3 Plus in Betrieb, eine überholte Version des ursprünglichen Versuchs. Die Forscher untersuchen hierin vor allem Phasenübergänge wie Schmelzen oder Erstarren und beobachteten unter anderem, wie sich die Kristallisation von einem Kristallisationskeim ausbreitet: "Das ist spannend, weil dieser Mechanismus häufig in der Natur auftritt", erläutert Mierk Schwabe vom Max-Planck-Institut für Extraterrestrische Physik in Garching, die an dem aktuellen Experiment mitforscht.
Altern im All
Nur für einige Tage im Jahr ist der Versuch in Betrieb, jeweils etwa rund 90 Minuten lang. Dann sind Mierk Schwabe und ihre Kollegen im russischen Kontrollzentrum nahe Moskau und können via Satellitenübertragung live zuschauen, wenn der Kosmonaut ihr Experiment durchführt. Vor der Mission hat er auf der Erde an einem baugleichen Trainingsmodell geübt. Ist die Messreihe beendet, wird der Versuchsaufbau wieder abgebaut und in der ISS verstaut. Bis die Daten allerdings auf dem Schreibtisch der Forscher landen, können einige Monate vergehen – die Festplatten mit den auf Film gebannten Messergebnissen bringen die Raumfahrer höchstselbst mit zur Erde, in diesem Fall nach Russland.
So oder so ähnlich geht es auch bei den zahlreichen anderen Experimenten auf der ISS zu, mit denen man herausfinden will, wie physikalische, chemische und biologische Prozesse ohne Gravitationseinfluss ablaufen. Wohin wachsen beispielsweise Wurzeln in der Schwerelosigkeit, und entwickeln Kaulquappen auch im Weltraum einen Gleichgewichtssinn? Wie verbrennt Treibstoff und wie bewegen sich Flüssigkeiten, Gele und Blasen ohne Schwerkraft? Auch der Mensch selbst wird zum Forschungsobjekt. Denn in der Schwerelosigkeit verändert sich der Körper von Astronauten. Es treten Prozesse auf, die dem Alterungsprozess des Menschen ähneln – allerdings im Zeitraffer und zum Glück umkehrbar – wie Muskel- und Knochenabbau oder Hautveränderungen. Nicht zuletzt im Hinblick auf zukünftige Weltraummissionen werden auch die Auswirkungen der Raumfahrt auf Herz-Kreislauf-, Gleichgewichts- und Immunsystem untersucht.
Ein großer Vorteil dabei: An Bord der ISS lassen sich extrem kontrollierte Bedingungen realisieren, denn alles, was die Astronauten an Nahrung zu sich nehmen und was sie wieder ausscheiden oder -schwitzen, wird protokolliert. "So kann man eine hochpräzise Bilanz aufstellen, in der man – salopp gesagt – sehen kann, wo jedes Molekül bleibt", erklärt Günther Ruyters vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Bonn, das alle deutschen Forschungsaktivitäten auf der ISS koordiniert. "Dabei lernen wir nicht nur, wie wir die Astronauten fit halten, sondern erfahren auch unheimlich viel über den menschlichen Körper im Allgemeinen. Dieses Wissen fließt dann zum Beispiel in die Entwicklung von neuen nichtinvasiven Diagnosegeräten, Therapien oder Rehamaßnahmen und kommt somit auch den Menschen auf der Erde zugute."
Viel zu tun, wenig Zeit
An spannenden Experimenten mangelte es auf der Raumstation also sicher nicht, eher an der Zeit, diese durchzuführen. Nachdem im Jahr 2003 die Raumfähre Columbia verunglückte, war die Station lange Zeit nur mit drei statt sechs Astronauten besetzt. "Die ersten Jahre muss man deshalb unter einem anderen Blickwinkel sehen, was die Möglichkeiten der Forschung angeht", sagt Ruyters. "Von den drei Astronauten waren im Grunde zweieinhalb für technische Dinge, Wartung, Aufbau und so weiter notwendig und ein halber konnte Forschung betreiben."
Seit 2009 beherbergt die ISS ständig sechs Crewmitglieder und es bleibt deutlich mehr Zeit für Wissenschaft. Und so zog man kürzlich auf einer Fachkonferenz in Bonn denn auch eine positive Zwischenbilanz, zehn Jahre nach dem ersten Experiment auf der ISS. Forschung unter Weltraumbedingungen sei unverzichtbar, um fundamentale Fragen in Physik, Biologie, Materialforschung und Medizin zu beantworten, ein Schrittmacher auf neuen Forschungsgebieten und Innovationstreiber für Anwendungen auf der Erde. Zu erwähnen sei auch die Vielzahl an bilateralen und internationalen Kooperationen. "Auf Grund der guten Ergebnisse und vor allem der guten Publikationen ist die Akzeptanz dessen, was unsere Wissenschaftler tun, in den letzten zehn, fünfzehn Jahren deutlich gewachsen," meint auch Ruyters.
Bemannt oder unbemannt?
Mit rund 100 Milliarden US-Dollar ist die ISS mehr als doppelt so teuer wie anfangs geplant. Jeder Cent lohnt sich, sagen wohl die beteiligten Wissenschaftler, bietet die ISS doch im Gegensatz zu Parabelflügen oder Forschungsraketen eine dauerhafte Forschungsmöglichkeit in der Schwerelosigkeit. Zudem können Astronauten und Kosmonauten im Bedarfsfall eingreifen und improvisieren, sollte mal etwas nicht wie gewünscht funktionieren – ein klarer Vorteil gegenüber unbemannten Missionen. "Und generell kann man auch nicht behaupten", so Ruyters, "dass die bemannte Raumfahrt teurer ist als die unbemannte Raumfahrt."
Diese Ansicht teilen allerdings längst nicht alle Wissenschaftler: "Laut unserer Experten erscheint es kostengünstiger und unter Umständen auch sinnvoller, naturwissenschaftliche Experimente im Weltraum durch Roboter statt durch Menschen ausführen zu lassen", sagt Wolfgang Sandner, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Auch wenn Menschen in bestimmten Situationen sicher flexibler seien als Maschinen, wären Roboter in der Summe eben doch die bessere Wahl, um Experimente im Weltall durchzuführen.
Doch die Raumfahrt lässt sich wohl kaum nur darauf reduzieren, weiß auch Sandner: "Geht es um die generelle Frage, ob sich die Menschheit in den Weltraum hinausbegeben soll – sei es um auf einer Raumstation zu leben, vielleicht den Mond zu besiedeln oder den Mars zu erkunden –, dann ist das keine Frage der Physik mehr, sondern eine gesellschaftliche Frage." Und die stehe eben in Konkurrenz zu anderen großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie der Lösung des Energie- oder Klimaproblems. "Hier spielen vergleichbare finanzielle Dimensionen eine Rolle und da die finanziellen Ressourcen begrenzt sind, muss man Prioritäten setzen."
Zukunft der ISS
Für die Internationale Raumstation wurde die Wahl bereits vor Jahrzehnten getroffen und auch die DPG ist dafür, die Forschungsplattform bis zum Ende der Nutzungsdauer – jüngst ausgeweitet bis auf das Jahr 2020 – zu betreiben. "Es gibt noch eine ganze Reihe von ausgewählten Projekten, die in den kommenden Jahren durchgeführt werden sollen", berichtet Ruyters. Von deutscher Seite plane man jedenfalls das Ungleichgewicht zwischen Lebenswissenschaften und Physik zu Gunsten der Physik zu verschieben – etwa mit Experimenten zu Materialdesign, Flüssigkeitsströmungen oder an ultrakalten Atomen.
Derzeit werden bereits 70 Projekte mit deutscher Beteiligung vorbereitet. Und wer weiß, vielleicht bleibt die ISS den Wissenschaftlern auch noch bis 2028 erhalten – vorausgesetzt sie ist noch in der technischen Verfassung dazu. Die Leiter der an der ISS beteiligten Raumfahrtagenturen hatten bei ihrem letzten Treffen im März 2011 jedenfalls schon mit diesem Gedanken gespielt.
Maike Pollmann
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