Sprachwissenschaften: Zahllose Belege
Ist etwas denkbar, wofür die Sprache keinen Begriff hat? Oder bleibt unser Geist gefangen in unserer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit? Seit einem halben Jahrhundert streiten sich die Linguisten über diese Frage. Ein kleiner Volksstamm im amazonischen Regenwald, der ohne Zahlenbegriffe lebt, könnte eine Antwort liefern.
Benjamin Lee Whorf war Inspektor einer amerikanischen Versicherungsgesellschaft. Zu seinen Aufgaben gehörte auch, die Ursachen von Brandunfällen zu untersuchen. So landete beispielsweise ein Fall auf seinem Schreibtisch, bei dem ein Arbeiter eine hoch entzündliche Flüssigkeit neben einer Heizung abgestellt hatte – mit entsprechendem Ergebnis. Wie sich herausstellte, sprach der Arbeiter nur wenig Englisch und hatte die Warnaufschrift "Highly inflammable" als "unbrennbar" missverstanden. In einem zweiten Fall war ein Kessel für Flüssigbrennstoff explodiert, der mit der Aufschrift "leer" gekennzeichnet war. Die Arbeiter hatten nicht bedacht, dass ein "leerer" Behälter gefährlich sein könnte.
Diese Beispiele zeigten Whorf, dass viele Unfälle auf sprachliche Missverständnisse beruhen – und führten den gelernten Chemieingenieur zu seinem neuen Hobby: der Linguistik. Er beschäftigte sich intensiv mit den Sprachen nordamerikanischer Indianerstämme und stieß dabei auf die Arbeiten des Ethnologen Edward Sapir. Beide gelangten zu der Überzeugung, dass die Sprache unser Denken fundamental beeinflusst: Wofür die Sprache keinen Begriff hat, bleibt – im wahrsten Sinne des Wortes – undenkbar. Demnach kann kein Mensch seine Umwelt objektiv und unparteiisch erfassen; sein Geist bleibt Gefangener seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit. Zwei Personen unterschiedlicher Muttersprachen kommen damit zwangsläufig zu unterschiedlichen Weltbildern. Dieses "linguistische Relativitätsprinzip", das auch als "Sapir-Whorf-Hypothese" in den 1950er Jahren – nach dem Tod der beiden Sprachforscher – bekannt wurde, blieb unter Linguisten heftig umstritten.
Fast völlig isoliert von der Außenwelt leben am Fluss Maici im Tiefland Amazoniens weniger als 200 Angehörige der Pirahã in kleinen Dörfern von zehn bis zwanzig Menschen – mit ihnen die beiden Linguisten Daniel und Keren Everett, die seit über zwanzig Jahren die Sprache des Stammes untersuchen. Das Besondere dieser Sprache ist nicht nur, dass sie mit wenigen Konsonanten und Vokalen auskommt, die Pirahã verzichten auch fast ganz aufs Zählen. Sie kennen lediglich die Zahlwörter "eins", "zwei" und "viele". Fehlt ihnen damit – wie die Sapir-Whorf-Hypothese voraussagt – auch das Verständnis, was eine Zahl ist?
Die Pirahã haben demnach überhaupt keine Vorstellung von Zahlen größer als drei, schließt Gordon. Und selbst ihr Wort für "eins" ließe sich eher mit "ungefähr eins" oder "wenig" übersetzen. Dieser Mangel beruht nicht etwa auf fehlender Intelligenz, betont der Wissenschaftler, andere Aufgaben bewältigen die Pirahã problemlos. Doch da ihre Sprache keine Zahlwörter kennt, sind für sie Zahlen schlicht undenkbar – genau wie es Benjamin Whorf mit seinem linguistischen Relativitätsprinzip vermutet hatte.
Diese Beispiele zeigten Whorf, dass viele Unfälle auf sprachliche Missverständnisse beruhen – und führten den gelernten Chemieingenieur zu seinem neuen Hobby: der Linguistik. Er beschäftigte sich intensiv mit den Sprachen nordamerikanischer Indianerstämme und stieß dabei auf die Arbeiten des Ethnologen Edward Sapir. Beide gelangten zu der Überzeugung, dass die Sprache unser Denken fundamental beeinflusst: Wofür die Sprache keinen Begriff hat, bleibt – im wahrsten Sinne des Wortes – undenkbar. Demnach kann kein Mensch seine Umwelt objektiv und unparteiisch erfassen; sein Geist bleibt Gefangener seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit. Zwei Personen unterschiedlicher Muttersprachen kommen damit zwangsläufig zu unterschiedlichen Weltbildern. Dieses "linguistische Relativitätsprinzip", das auch als "Sapir-Whorf-Hypothese" in den 1950er Jahren – nach dem Tod der beiden Sprachforscher – bekannt wurde, blieb unter Linguisten heftig umstritten.
Kritisiert wurden Sapir und Whorf vor allem deshalb, weil letztendlich überzeugende Belege für ihre radikale Sichtweise fehlten. Doch könnte jetzt – ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Sapir-Whorf-Hypothese – ein kleiner Volksstamm aus dem brasilianischen Regenwald diese Belege nachliefern.
Fast völlig isoliert von der Außenwelt leben am Fluss Maici im Tiefland Amazoniens weniger als 200 Angehörige der Pirahã in kleinen Dörfern von zehn bis zwanzig Menschen – mit ihnen die beiden Linguisten Daniel und Keren Everett, die seit über zwanzig Jahren die Sprache des Stammes untersuchen. Das Besondere dieser Sprache ist nicht nur, dass sie mit wenigen Konsonanten und Vokalen auskommt, die Pirahã verzichten auch fast ganz aufs Zählen. Sie kennen lediglich die Zahlwörter "eins", "zwei" und "viele". Fehlt ihnen damit – wie die Sapir-Whorf-Hypothese voraussagt – auch das Verständnis, was eine Zahl ist?
Genau dieser Frage ging Peter Gordon von der Columbia-Universität nach, als er die Pirahã besuchte. Er stellte einige von ihnen scheinbar simple Aufgaben: So sollten sie schlicht mit ihren Fingern andeuten, wie viele Äpfel vor ihnen lagen. Das klappte problemlos – so lange es weniger als drei waren. Darüber hinaus wurden sie unsicher und zeigten bei vier Äpfeln mal fünf, mal drei Finger. Es gelang ihnen auch nicht, eine Gruppe von mehr als drei Strichen fehlerfrei nachzuzeichnen. Und als Gordon ihnen Reihen von bis zu zehn Gegenständen präsentierte und sie bat, genauso viele vor sich hinzulegen, stieg die Fehlerrate ab vier Objekten an. Lagen die präsentierten Gegenstände jedoch statt schön aufgereiht kreuz und quer durcheinander, dann konnten die Pirahã auch Größen von sieben und acht korrekt wiedergeben – offensichtlich, weil sie dann die Objekte zu Zweier- und Dreiergruppen zusammenfassten.
Die Pirahã haben demnach überhaupt keine Vorstellung von Zahlen größer als drei, schließt Gordon. Und selbst ihr Wort für "eins" ließe sich eher mit "ungefähr eins" oder "wenig" übersetzen. Dieser Mangel beruht nicht etwa auf fehlender Intelligenz, betont der Wissenschaftler, andere Aufgaben bewältigen die Pirahã problemlos. Doch da ihre Sprache keine Zahlwörter kennt, sind für sie Zahlen schlicht undenkbar – genau wie es Benjamin Whorf mit seinem linguistischen Relativitätsprinzip vermutet hatte.
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