Die Lügenbrücke
Bleibt sie stehen, weil der Sohn die Wahrheit gesagt hat? Oder weil der Vater gelogen hat?
Vater und Sohn gehen spazieren und nähern sich einer Brücke, über die der Weg führt. Der Vater verhört seinen Sohn zu der Frage, wieso die schöne Vase im Wohnzimmer plötzlich aus ganz vielen Teilen besteht, aber der Sohn ist wild zu einer Notlüge entschlossen. Da sagt der Vater: "Die Brücke da vor uns ist die Lügenbrücke: Wenn jemand über sie geht, der an dem gleichen Tag gelogen hat, bricht sie zusammen." Das schüchtert den Sohn so stark ein, dass er etwas von einer offenen Tür und einem Ball, der sich in das Wohnzimmer verirrt hat, berichtet. So kann er unbesorgt über die Brücke gehen, soweit es ihre Eigenschaft als Lügenbrücke betrifft.
Aber wie unbesorgt kann der Vater sein, wenn er ebenfalls über die Brücke geht?
Natürlich völlig unbesorgt, entweder weil er die Wahrheit gesagt hat, oder (was ich für wahrscheinlicher halte) weil er die Unwahrheit gesagt hat. Genau so fragwürdig ist die Moral eines Dialogs, der mit der Geschichte verwandt ist: Ein frommer, aber überheblicher Mensch sagt zu einem Atheisten: "Sie werden nicht in den Himmel kommen, weil Sie nicht an Gott glauben". Dieser ist genau so selbstbewusst: "Wir kommen beide nicht in den Himmel, ich nicht, weil ich nicht glaube, und Sie nicht, weil es keinen Himmel gibt." Seltsamerweise meint E. Flechsig, der aus Gellerts Gedicht "Der Bauer und sein Sohn" die logische Frage abgeleitet hat, dass der Vater schlechte Karten habe, und fügt Zweifel daran nur in Klammern an. Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass eine Brücke, über die man solche Dinge erzählt, nicht sehr stabil ist. Wenn es solche Gerüchte gibt, sollte man unabhängig von der Wahrheitsliebe vorsichtig sein. Wenn man das Gerücht aber selbst erfunden hat, gibt es keinen Grund, ihm zu glauben. Oder doch? Tünnes will die Touristen foppen und guckt auffällig vor dem Kölner Dom nach oben, als ob dort etwas Besonderes zu sehen wäre. Nach einigen Minuten recken alle Touristen die Hälse und halten Ausschau. Schäl fragt ihn: "Warum guckst du immer noch nach oben, da ist doch nichts." Aber Tünnes ist verunsichert: "Vielleicht doch, guck doch, wie viele Leute nach oben sehen."
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