Mond, Gezeiten und Eugenik

Auch sein jüngerer Bruder Francis weiß nicht, woher diese Vornamen kommen. »Das war eine der Tatsachen, auf der unsere Theorie basiert, dass unsere Eltern während der Taufe ihre Geistesgegenwart verloren und uns Namen gegeben haben, für die es weder eine Entschuldigung durch Tradition noch eine Vorliebe ihrerseits gab«, schreibt er. Wenigstens beim zweiten Vornamen seines Bruders ist die Herkunft klar: Der ist ein Erbstück, abgeleitet vom Nachnamen der Urgroßmutter. Jener verdanke der Gesuchte wohl auch seine schlechte Gesundheit, vermutet Bruder Francis weiter. Wahrscheinlicher ist indes ein anderer Grund: Die Eltern der beiden Brüder sind Cousin und Cousine.
Damit wären wir beim Hype-Wissenschaftsthema Nummer eins jener Zeit angekommen: der Vererbungslehre. Der Vater des Gesuchten, ein heute noch weltberühmter Biologe, hat an deren Entwicklung einen gehörigen Anteil. Seine Ausführungen zur Fauna, mitgebracht von einer langen Expedition rund um die Südhalbkugel der Erde, gelten als Ausgangspunkt der modernen Evolutionsbiologie. Nach der Reise lässt sich der Vater in einer abgeschiedenen Ecke am Rand von London nieder und kümmert sich um seine Familie.
So wächst der Sohn behütet auf dem Land auf. Auch wenn er zeit seines Lebens das ländliche Leben liebt, ist eine ganze Reihe von Auslandsaufenthalten überliefert – Algier, Budapest, Stuttgart und Südafrika. Deutschland mag er (von Fritz Reuter lernt er Plattdeutsch), besonders aber liebt er Frankreich. Zusammen mit seiner Frau, einer Exil-Hugenottin, unternimmt er »große Anstrengungen, um den Kindern zu ermöglichen, auf Deutsch und Französisch Konversation zu treiben«, erinnert sich der Bruder. Wie der Vater kommt also auch der Sohn weit herum, und wie der Vater hängt auch er an einem speziellen Forschungsgebiet – in seinem Fall: der Erforschung von Mond und Gezeiten. Dafür gibt er sogar den Beruf des Anwalts auf.
Wenn er sich vom Mond wegbewegt, dann nicht sehr oft und eher essayistisch – zum Glück, muss man wohl sagen. In seinem Aufsatz »Development in Dress« entwickelt er eine Art Evolutionstheorie der Männermode. In seinen »Wohltuenden Beschränkungen der Freiheit der Ehe« singt er ein Loblied auf eugenische Eheregeln zur Ausrottung geistiger Krankheiten, die, wie er vorrechnet, explodieren wie die geometrische Reihe. »Scheint es nicht so, dass wir gezwungen sind, Schritte zur Beseitigung dieses Krebsgeschwürs in Betracht zu ziehen, und dass die Ethnien, die diesen Versuch hinauszögern, im Kampf um das Leben zurückbleiben müssen? Hoffen wir zum Wohle der Welt, dass die teutonischen Ethnien bei diesem Versuch die Führung übernehmen werden.« Dass das ganz und gar nicht im Sinne der Menschheit ist, beweist rund 60 Jahre später eine selbst ernannte »teutonische Ethnie« mit ihren Weltherrschaftsfantasien und ihrer Ausrottungspraxis, doch das erlebt der Gesuchte nicht mehr.
Tatsächlich statistisch untermauert untersucht der Gesuchte noch »Ehen zwischen Cousin und Cousine ersten Grades in England und ihre Auswirkungen«. Es ist eine Art wissenschaftliche Aufarbeitung eines Familientraumas: Sein Vater, der seine Nachkömmlinge für die damalige Zeit ungewöhnlich herzlich und liebevoll behandelt, hat offenbar Schuldgefühle auf Grund der Behinderung und des frühen Todes mehrerer seiner Kinder.
Vererbung schwirrt also als Thema in der Familie herum, und über allem schwebt die große Evolutionstheorie des Vaters. Der Weg in Geologie und Astronomie ist von hier aus näher, als man denken mag, denn eine Kernfrage katapultiert einen sofort in die Erdgeschichte zurück: Ist die Erde überhaupt alt genug, um der Evolution Zeit für die Entwicklung der biologischen Artenvielfalt zu geben?
Bei der Suche nach einer Antwort könnte der Mond helfen. Schließlich schleppt der dauernd zwei Wasserberge auf den Ozeanen hinter sich her, einen auf der ihm zugewandten Seite der Erde und einen gegenüber. Diese Wasserberge fließen über den Boden und werden dabei gebremst. So entstehen Kräfte, welche die Rotation der Erde (und entsprechend auch des Mondes) allmählich verlangsamen. Das Ergebnis: Heute rotiert der Mond »gebunden«; er zeigt der Erde bei seiner Rotation immer dieselbe Seite. Wie lange brauchte man, um einen dicken Klops wie den Mond so weit abzubremsen?
Der Gesuchte wird zum Experten für die Untersuchung dieser und anderer Fragen rund um die Entstehung des Mondes und der Gezeiten. Dutzende Arbeiten schreibt er über die »Dynamische Theorie der Gezeiten« und die »Harmonische Analyse der Gezeitenbeobachtungen von Ebbe und Flut«, über die »Präzession eines viskosen Sphäroides und die frühe Geschichte der Erde« und »Säkulare Änderungen der Bahnelemente eines Satelliten, der um einen durch Gezeiten deformierten Planeten kreist«. Er hält Festvorträge über die Vorhersage der Gezeiten und entwickelt eine Fissionstheorie zur Mondentstehung, die darauf basiert, dass der Mond sich aus der frühen Erde aus einem Hügel abgespalten hat, der durch die Gezeitenwirkung der Sonne gebildet worden war – die Theorie gilt heute weithin als überholt. Doch als er stirbt, ist er ein angesehener Professor für Astronomie an einer der angesehensten Universitäten der Welt.
Es war George Howard Darwin (geboren am 9. Juli 1845 in Down House, Kent, England, gestorben am 7. Dezember 1912 in Cambridge, England), das fünfte Kind und der zweite Sohn des Evolutionstheoretikers und Biologen Charles Darwin. Er wuchs im Südosten Londons, in der kleinen Gemeinde Down (heute: Downe), in ländlicher Abgeschiedenheit auf. Ab dem Jahr 1856 schickten ihn seine Eltern in die Clapham Grammar School, eine Schule unweit des Wohnhauses mit Mathematikschwerpunkt.
Mehrfach versuchte Darwin in den folgenden Jahren vergeblich, Stipendien für Cambridge zu bekommen; im Jahr 1866 klappte es, und er konnte am Trinity College der Cambridge University studieren. Im Jahr 1868 absolvierte er die Bachelorprüfung, die er in Mathematik mit dem so genannten Smith’s Prize als »Second Wrangler« abschloss, also als Jahrgangszweitbester. Im selben Jahr wurde er Fellow in Trinity.
George Darwin lernte in Cambridge unter anderem Lord Rayleigh kennen und befreundete sich mit ihm. Es war eine von vielen Freundschaften, die er pflegte: Darwin wird als sozial, warmherzig, neugierig und aktiv beschrieben. In seiner Freizeit spielte er als Student Tennis, er fuhr gerne Fahrrad, und gegen Ende seines Lebens versuchte er sich sogar im Bogenschießen.
Im Jahr 1869 besuchte er für zwei Monate Paris, um Französisch zu lernen. Nach seiner Rückkehr begann er, als Anwalt zu arbeiten. Den Beruf konnte er jedoch wegen gesundheitlicher Probleme – er klagte über Verdauungsprobleme, Übelkeit, generelles Unwohlsein und Schwäche – nur mit vielen Unterbrechungen ausüben. Für Kur- und Erholungsaufenthalte besuchte er unter anderem mehrfach Cannes.
Nach drei Jahren entschied er sich, den Beruf des Anwalts aufzugeben, und zog nach Cambridge. Dort betätigte er sich zunächst als Feuilletonist und Privatgelehrter. Gleichzeitig erfüllte er unbezahlte Verwaltungsaufgaben in Komitees und Gremien der Universität. So arbeitete er beispielsweise in den Jahren 1878 bis 1882 im Museums and Lecture Rooms Syndicate.
Sein erster Artikel über die Gezeitenwirkung des Mondes erschien im Jahr 1877: »On the Influence of Geological Changes in the Earth’s Axis of Rotation«. Es folgten kurz darauf viele weitere Artikel zum selben Thema, das Darwin zu seinem Hauptforschungsinteresse ausbaute. In den folgenden Jahren publizierte er etwa fünf Artikel zu Mond und Gezeiten pro Jahr und erwies sich dabei nicht nur als produktiver, sondern auch als gewandter Physiker und Mathematiker. Er erntete schnell große Anerkennung aus der Wissenschaftsgemeinde. Noch im Jahr 1877 wurde er daher als Mitglied der Royal Society vorgeschlagen und zwei Jahre später tatsächlich in die Gesellschaft gewählt. Darwin war zum Ende seines Lebens Mitglied zahlreicher Wissenschaftsorganisationen.
Im Jahr 1883 wurde er Plumian Professor of Astronomy and Experimental Philosophy. Der Lehrstuhl ist der theoretischen Astronomie gewidmet und passte so ideal zu Darwins Interessen, der theoretischen Untersuchung des Mondes und der Gezeiten. Im Jahr darauf heiratete Darwin Maud Du Puy, eine Amerikanerin, die einer hugenottischen Familie entstammte.
Im Jahr 1885 zog er mit seiner Gattin in das großzügige Haus Newnham Grange in Cambridge, wo sie bis zu Darwins Tod leben sollten und eine Familie gründeten. Das Paar hatte fünf Kinder, von denen eines noch als Baby starb.

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