Umsturzgefahr
Vor wenigen Jahrzehnten traf ich zufällig auf einer Ferienreise einen meiner besten Schüler und bat ihn sogleich, für diese beiden Fotos Modell zu stehen. Beachten Sie, dass der – nicht direkt sichtbare – Horizont auf beiden Bildern waagerecht liegt. Wie ist das möglich?
Der Horizont ist zwar nicht sichtbar, aber trotzdem entscheidend. Das Weitwinkelobjektiv ist nützlich für solche Aufnahmen, es verzeichnet aber keineswegs: Der Effekt ist eine reine Frage der Perspektive wie bei einer Lochkamera.
Hier ist nun auch das zweite Bild in voller Größe. Ich habe die Kamera in beiden Fällen nicht um die Blickachse gedreht, sondern habe den Horizont waagerecht im Bild; aber ich habe ihn im linken Bild in der unteren Hälfte, blicke also etwas nach oben, und rechts ist es umgekehrt, die Kamera ist nach unten geneigt und nimmt ziemlich viel Fußboden auf, den ich dann – bösartigerweise – im Fragebild zu einem großen Teil weggeschnitten habe.
Bei normalen Kameras (auch bei der hier benutzten) sind Bildebene und Objektivebene parallel zueinander. Sie bildet Objektebenen, die parallel zu beiden sind, weitgehend verzerrungsfrei ab, das gilt auch für Weitwinkelobjektive (aber nicht für "Fischaugen"). Wir können also so argumentieren, als hätten wir eine Lochkamera. Stellt man sich vor eine senkrechte Wand und hält die Kamera waagerecht, so erscheint in der Bildmitte ein Horizont an der Stelle der Wand, die so hoch ist wie die Kamera (sozusagen Augenhöhe), und das Bild ist unverzerrt. Wenn man auf diese Weise einen Turm aufnimmt, zeigt die untere Bildhälfte Fußboden.
Aus Gründen der Sparsamkeit fotografiert man den Turm schräg von unten. Dabei wird der obere Teil mehr verkleinert als der untere, eine rechteckige senkrechte Wand wird auf dem Bild zu einem Trapez mit der kürzeren Grundseite oben. Übrigens bedeutet "trapeza" nichts anderes als "Tisch" (und im Neugriechischen auch "Bank", nicht die zum Sitzen, sondern die fürs Geld). Senkrechte Linien an den Objekten, etwa ein Wald von Türmen wie an den Houses of Parliament in der City of Westminster sehen dann auf dem Bild aus, als neigten sie sich zur Bildmitte, auch wenn gar kein Umstürzler nachhilft.
Umgekehrt ist es, wenn die Kamera nach unten schaut: Der Horizont liegt in der oberen Bildhälfte, die Türme zeigen mit den Spitzen nach außen, und anscheinend kann nur die Hilfe eines kräftigen Schülers sie vor dem Umfallen bewahren.
Normalerweise (d. h. außerhalb von Rätselsammlungen und abgesehen von expressionistischen Stummfilmen) ist der Effekt der perspektivischen Neigung natürlich unerwünscht. Mit einer billigen Kamera vermeidet man ihn durch waagerechtes Aufnehmen und eventuelles Abschneiden der unteren Bildhälfte. Wenn die Schärfentiefe kein Problem ist, kann man auch ein schräges Bild nachträglich im Labor wieder zurück verzerren und dabei das Format voll nutzen. Sehr teure Kameras haben auch die Möglichkeit, die Bildebene gegen die Objektivebene zu neigen und damit eine ganze Objektebene scharf aufzunehmen, auch wenn diese nicht senkrecht und nicht parallel zur Bildebene steht (Satz von Scheimpflug).
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