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Zwischen Afroromantik und Afrokalypse

Der Journalist Bartholomäus Grill erklärt in seinem neuen Buch, warum Afrika viel mehr ist als Kriege, Krankheiten und Katastrophen.

Bartholomäus Grill, über vier Jahrzehnte Afrika-Korrespondent der »Zeit« und des »Spiegel«, hat ein neues Buch geschrieben. In »Afrika! Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents« reflektiert er seine Zeit auf dem Kontinent und verknüpft seine Reportagen mit politischen Analysen. Grill beleuchtet auch eigene blinde Flecken und findet einen Weg zwischen Afroromantik und Afrokalypse, um sich mit seinem Korrespondentendasein zwischen Hoffnung und Enttäuschung auseinanderzusetzen.

Von der Makro- zur Mikroebene

1980 betritt Bartholomäus Grill in Tansania zum ersten Mal afrikanischen Boden. Es ist der Anfang einer langen Liebesgeschichte. Angetreten, um beim Bau eines Kulturzentrums zu helfen, wird er in den folgenden Jahrzehnten als Korrespondent aus über 50 Ländern des Kontinents berichten. Aus dem geplanten Kulturzentrum wird nur ein Hühnerstall. Aus seinen Berichten entwickelt sich jedoch ein Mosaik über einen Kontinent, der in seiner Vielschichtigkeit schwer zu fassen ist. Viel wird ihm zugeschrieben: Afrika sei korrupt, ein Zukunftslabor und vor allem eines – arm. Grill versucht einen Wirklichkeitsabgleich. Von der Makroebene wechselt er immer wieder auf die Mikroebene und erzählt Geschichten von Individuen, die dabei über sich hinausweisen.

Emotionale Bekenntnisse und nüchterne Beobachtungen werden von scharfen Analysen abgelöst. So begleitet der Autor einen nigerianischen Hirsebauern, dessen Ernte durch ausgelaugte Böden und fehlenden Niederschlag keinen Ertrag bringt. Der Klimawandel ist hier nur ein Faktor, der zu immer ausgiebigeren Hungersnöten führt, schreibt Grill. Auch das rasante Wachstum der Bevölkerung sei eine Ursache für entstehenden Nahrungsmangel. In Nigeria gelten kinderreiche Familien als sichere Altersvorsorge, Niger weist weltweit die höchste Fruchtbarkeitsrate auf. Im Schnitt bringt jede Frau dort sieben Kinder zur Welt. Der Binnenstaat bildet allerdings das Schlusslicht unter den 189 Staaten auf dem globalen Index, mit dem die Vereinten Nationen Wohlstand und Lebensqualität messen. Wenn die Bevölkerung exponentiell wächst, die Nahrungsmittelproduktion jedoch nur linear zunimmt, entsteht ein strukturelles Defizit.

Grill beschreibt aber auch Afrikas gewaltige Potenziale. So ist es der rohstoffreichste Kontinent der Erde. Zudem könne es Vorbild sein in Bezug auf umweltschonende Produktionsformen und sei in der Lage, wirtschaftliche Alternativen zu entwickeln zu einer Gesellschaft, die rein auf Wachstum fußt. Entschieden warnt der Autor vor der Produktion von Angstbildern bezüglich einer unberechenbaren Migrationsflut in die europäischen Länder und führt Ergebnisse seriöser Migrationsforschung an, nach welchen Mitte des 21. Jahrhunderts der Anteil afrikanischstämmiger Menschen in Europa bei gerade einmal zwei bis drei Prozent liegt.

Auch der Genozid in Ruanda im Jahr 1994 ist Gegenstand von Grills Reportagen. 20 Jahre nach dem Völkermord an den Tutsi kehrt der Korrespondent zurück und besucht die nationale Gedenkstätte in Murambi. In einer ehemaligen Schule – einem der vielen Schauplätze des Massakers –, in der hunderte kalkkonservierte Leichen in Erinnerung an die Gräueltaten aufgebahrt sind, spricht Grill mit einer der Überlebenden. Die Witwe hat 20 Familienmitglieder und Verwandte verloren. Fünf ihrer Kinder wurden getötet. Die Zeit ist für sie stehen geblieben. Parallel zum Genozid in Ruanda ereignet sich in Südafrika der Untergang der Apartheit. Deshalb wurde den Entwicklungen in Ruanda in der journalistischen Berichterstattung kaum Beachtung geschenkt. Grill verfasste damals eine Fernanalyse – ein Text, der »die unverzeihlichsten Irrtümer enthält, die dem Journalisten in seinem Berufsleben unterlaufen sind«, bekennt er. Ein Großteil der Korrespondenten hatte den Genozid nicht kommen sehen. Ein Umstand, der bis heute an Grill nagt. Es ist das düsterste und persönlichste Kapitel in seinem Buch.

Grill blickt dennoch optimistisch in die Zukunft des afrikanischen Kontinents. Denn gerade die jüngere Generation spreche mit einer stärkeren und klareren Stimme, als es alle vorherigen getan haben. Es beginne eine Phase, in welcher die Kolonialgeschichte und das Verhältnis Afrikas zum Rest der Welt neu bewertet werden. Und das erstmals aus afrikanischer Perspektive. Hieraus ergebe sich eine Umkehrung der Weltsicht. Deutungshoheiten verschieben sich, so Grill.

Der Autor hütet sich davor, Universalrezepte für Afrika zu entwickeln. Auch reflektiert er seine eigenen abendländischen Werte und den Blick, der sich hieraus auf den Kontinent ergibt – wohl wissend, dass er diesen nicht ablegen kann und dass sich soziale Wirklichkeiten stets nur begrenzt objektiv abbilden lassen. Die eigene Biografie schreibe immer mit. Dennoch sind Grills Berichte und Reportagen der Versuch, ein realistisches Bild von Afrika zu vermitteln, in all seiner Kleinteiligkeit, das sich nicht in der Berichterstattung über Kriege, Krankheiten und Katastrophen erschöpft. Wer Lust hat, Klischees zu hinterfragen und dabei auch Neues zu erfahren, dem sei das gelungene Buch ans Herz gelegt.

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