Wahrscheinlichkeitstheorie für den Hausgebrauch
Kann man etwas über eine große Menge von Menschen herausfinden, wenn man nur eine sehr kleine Zufallsauswahl von ihnen in Augenschein nimmt? Da geht erstaunlich viel. Kennt man zum Beispiel nur die Körpergröße von fünf Menschen, so liegt mit einer Wahrscheinlichkeit von 94 Prozent der Median der Gesamtbevölkerung zwischen dem kleinsten und dem größten Messwert unserer bescheidenen Stichprobe. Median ist nicht genau der Durchschnitt, sondern der Wert mit der Eigenschaft, dass die Hälfte aller Werte darunter und die Hälfte darüber liegt.
Wahrscheinlichkeitstheorie im Plauderton
Wieso? Das kann man ausrechnen. Jeder der fünf Menschen ist mit Wahrscheinlichkeit 1/2 groß (über dem Median) oder klein (darunter). Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass man bei der Stichprobe fünf Große erwischt hat, ist (1/2)5 = 1/32 oder ungefähr 3 Prozent, ebenso für fünf Kleine. In allen anderen Fällen ist mindestens ein Großer und ein Kleiner dabei; das macht die genannten 94 Prozent aus. Vorausgesetzt natürlich, die Auswahl der fünf Testobjekte ist wirklich zufällig. Wer sich für das Studium der Körpergröße nur unter den Mitgliedern der eigenen Kindergartengruppe umschaut, wird zu irreführenden Ergebnissen kommen.
Christian Hesse, Mathematikprofessor in Stuttgart, vollbringt das Kunststück, diese Rechenaufgabe aus der Wahrscheinlichkeitstheorie im munteren Plauderton vorzustellen und mit allem Zubehör – Lösung, Erläuterungen und Beispiele – auf drei Seiten unterzubringen. Ähnliches gelingt ihm mit der Aufgabe, aus wenigen Nummern – Startnummern der Läufer beim Marathon oder Fabriknummern erbeuteter Panzer – eine Schätzung für die Gesamtzahl der jeweiligen Objekte herzuleiten.
Wie gewinnt man am Anfang der Bundesligasaison eine einigermaßen treffsichere Prognose über die Tabelle am Ende? Auf eine brutal einfache Weise: Man zähle die Marktwerte der Spieler jeder Mannschaft zusammen. Die so zu Stande kommende Reihenfolge und die Rangfolge am Saisonende sind sich sehr ähnlich, in Zahlen ausgedrückt: Der Korrelationskoeffizient beträgt 0,8.
Der Autor hat sich mit allerlei leicht verdaulichen Büchern zum Thema Mathematik einen Namen gemacht. Sein neues Werk besteht aus zahlreichen kurzen Kapiteln, die jedes eine Frage zur Überschrift haben.
»Wie berechnet man die Zukunft?« Genauer ausgedrückt, wie schätzt man ein, wie lange ein Zustand, den man beobachtet, noch andauern wird? Man unterstellt, dass man diesen Zustand – Wladimir Putin hat in Russland das Sagen, mein Nachbar hat dieses Wohnmobil, der verspätete Zug ist noch nicht eingetroffen – zu einem zufälligen Zeitpunkt antrifft, also mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht in den ersten und nicht in den letzten fünf Prozent seiner unbekannten Lebensdauer. Das rechnet der Astrophysiker J. Richard Gott um in eine Schätzung für die noch zu erwartende Dauer des Zustands. Hesse wendet das an auf die Amtszeiten der deutschen Ministerpräsidenten, beobachtet am 26. April 2012, und erschließt zu diesem Zeitpunkt unter anderem, dass Kurt Beck, damals schon fast 20 Jahre im Amt, mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht länger als zum 28. Oktober 2134 amtieren wird. Das hat sich inzwischen als korrekt herausgestellt; Becks Amtszeit endete am 16. Januar 2013. So ist das: Wer bei extrem magerer Datenbasis Aussagen machen will, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffen, landet gelegentlich bei absurd nichts sagenden Sprüchen.
»Wie hängen Zufall, Tiefenpsychologie und Physik zusammen?« Gar nicht, auch wenn der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung dazu neigte, gleichzeitig auftretenden Ereignissen große Bedeutung oder gar übersinnliche Ursachen zuzuschreiben, und der bedeutende Physiker Wolfgang Pauli auf derartigen Unfug hereinfiel.
»Wann sind wir besonders schlecht drauf?« Montags – wer hätte das gedacht. Neuerdings können Forscher von der University of Vermont das belegen, weil sie Millionen von Twitternachrichten per Algorithmus nach emotionshaltigen Wörtern durchsuchten.
In Zeiten massenhaft verfügbarer digitaler Daten ist es eine beliebte Übung geworden, die Computer nach Korrelationen suchen zu lassen. Schnell noch eine Interpretation dazu, und fertig ist die wissenschaftliche Arbeit. Von solchen halb garen Ergebnissen finden sich zahlreiche in Hesses Buch; und nachdem die Psychologen selbst inzwischen intensiv die mangelnde Reproduzierbarkeit ihrer Ergebnisse beklagen, hätte der Autor da vielleicht etwas strenger auslesen sollen.
»Wie treffen Sie am besten eine wichtige Entscheidung?« Trinken Sie eine halbe Stunde vorher eine Flasche Wasser. Denn »wer Harndrang verspürt, ist weniger impulsiv, kann sich besser konzentrieren und klügere Entscheidungen treffen«, wie ein belgisch-niederländisches Forschungsteam herausgefunden hat. Echt jetzt?
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