Mehr als nur Fortbewegung
Es waren große Ideen, die aus der philosophischen Schule der Peripatetiker hervorgingen. Im Peripatos, der Wandelhalle des Lyceums in Athen, hatte Aristoteles (384–322 v. Chr.) nach der Trennung von der Akademie seines Lehrers Platon (428–348 v. Chr.) seine eigene Schule errichtet. Der Ort wurde für sie namensgebend. Er steht aber auch für eine Methode des kreativen Denkens, die heute unüblich geworden ist: Denn man philosophierte oft im Gehen.
In seinem Sachbuch widmet sich der irische Neurowissenschaftler Shane O'Mara dem Gehen aus medizinischer, evolutionsbiologischer, biomechanischer, psychologischer und sozialer Perspektive – und stellt dar, was man derzeit über das Gehen und seine positiven Effekte weiß. O'Mara zufolge sind unser Körper und Gehirn auf vielfältige Weise geradezu auf Bewegung ausgelegt. Zwar hat sich nur beim Menschen die dauerhafte Zweifüßigkeit entwickelt. Doch die Fähigkeit des Gehens verdanken wir einem sehr alten Genkomplex, den wir mit vielen anderen Arten teilen. Dieser steuert etwa die Entwicklung von Muskeln, Nerven, Sehnen und Knochen. O'Mara beschreibt die evolutionären Auswirkungen der Zweifüßigkeit auf den gesamten Körperbau: von der Form und Lage des Kopfs über die des Beckens und der Füße.
Der Autor argumentiert, dass der Mensch bis in die jüngste Vergangenheit immer vor dem Problem knapper Ressourcen wie Nahrungsmitteln, Unterkunft oder Paarungspartnern gestanden habe. Um dem zu entgehen, war er auf die Fähigkeit sich fortzubewegen angewiesen. Im Lauf der Zeit breitete sich der Mensch so über die ganze Welt aus. Dabei musste er sich immer wieder neuen Herausforderungen und Umwelten stellen. Anhand von Studien an traditionellen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften wie den Hadza in Tansania sowie Laborexperimenten mit Bein-Exoskeletten veranschaulicht der Autor, dass der Körper bestrebt ist, den Energieverbrauch beim Gehen zu minimieren. So kann er die zurückzulegende Entfernung maximieren.
Plädoyer für mehr Bewegung
Gestützt auf medizinische und psychologische Studien zeigt O'Mara die Zusammenhänge zwischen regelmäßiger Bewegung und einer guten körperlichen und geistigen Gesundheit auf. Rückenbeschwerden zählen in Industrienationen zu den häufigsten Leiden. Oft werden sie durch Schreibtischjobs und mangelnde Aktivität verursacht. Muskeln, Blutdruck und Stoffwechselrate verschlechtern sich bei fehlender Bewegung. O'Mara erklärt, dass sie sich bereits ändern, wenn wir uns nur erheben. Sportliche Tätigkeiten helfen zudem bei psychischen Störungen wie Depressionen sowie beim Lernen.
Der französisch-schweizerische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) bekannte einmal, er könne nur beim Gehen denken. Wie sehr Fortbewegung hilft, die Gedanken schweifen zu lassen, neu zu ordnen und damit kreative Lösungen für Probleme zu finden, verdeutlicht O'Mara am Beispiel des irischen Mathematikers Sir William Rowan Hamilton (1805–1865). Dieser entdeckte durch einen Geistesblitz beim Spazierengehen die Formel zur Quaternionenmultiplikation, nach der er schon lange gesucht hatte. Anders verhält es sich, wenn man komplexe Rechenaufgaben lösen möchte. Hierfür muss man sogar stehen bleiben.
Das Gehen mag im heutigen Alltag angesichts vieler technischer Möglichkeiten der Fortbewegung antiquiert, zeitaufwändig und ineffizient erscheinen oder in Vergessenheit geraten sein. O'Mara stellt in seinem klar strukturierten und verständlich geschriebenen Buch nicht nur dessen Wichtigkeit heraus. Sondern er versucht, dazu zu inspirieren, es bewusst in den Alltag zu integrieren.
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