»Deutsche Fleischarbeit«: Die Entleibung der Tierkörper
Fleisch ist heute immer und überall verfügbar und billiger denn je. Die Tiere, denen wir es aus den Rippen schneiden, sind dagegen aus dem öffentlich sichtbaren Leben verschwunden. Das ist eines von mehreren Paradoxa, auf die Veronika Settele in ihrem Buch »Deutsche Fleischarbeit. Geschichte der Massentierhaltung von den Anfängen bis heute« hinweist. Settele ist keine Aktivistin, sondern Historikerin. Sie klagt nicht an. Sie schreibt auf, wie wurde, was heute ist. Und trotzdem wird es einigen nach der Lektüre bestimmt deutlich schwerer fallen, ein Stück Fleisch – aus Massentierhaltung – in die Pfanne zu werfen.
Ein Leben mit Tieren
Aber der Reihe nach: Das Buch beginnt mit seiner Fleischbeschau etwa Mitte des 19. Jahrhunderts: Damals bevölkerten Schweine, Rinder und Hühner noch zu Zehntausenden große Metropolen wie New York. Die Tiere, die auf der Straße oder in Bretterverschlägen gehalten wurden, waren die Lebensversicherung der ärmsten Bevölkerung und gleichzeitig Ausdruck ihrer Armut. Nach und nach wurden die Tiere dann aus den Städten verbannt: Aus Manhattan wurden sie 1859 im so genannten »Piggery War« gewaltsam vertrieben. In Berlin lebten Rinder und Schweine noch länger unbehelligt in den Wohnvierteln, wo sie auch geschlachtet wurden. Das änderte sich erst 1881 mit der Eröffnung des Zentralen Schlachthofs.
Von 1861 bis 1911 verdoppelte sich der durchschnittliche Schweinefleischkonsum von 20 auf 40 Kilogramm. Trotzdem blieb eine mit Würsten und Fleisch gedeckte Tafel für viele ein unerreichbarer Sehnsuchtsort. Andererseits – schreibt Settele – war Fleisch um die Jahrhundertwende bereits zum Symbol des jedermann zustehenden guten Lebens geworden. Diese Mischung aus Mangelerfahrung, Statussymbol und eingelöstem Wohlstandsversprechen bestimmt unsere Beziehung zu Fleisch bis heute.
Nach herben Rückschlägen bei der Fleischversorgung im Dunstkreis von Wirtschaftskrisen und Weltkriegen nahm die Massentierhaltung erst nach 1945 richtig Gestalt an. Settele widmet Rindern, Hühnern und Schweinen jeweils ein eigenes Kapitel und geht dabei auch auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede in Ost- und Westdeutschland ein. Die Tiere wurden zum reinen Wirtschaftsgut, das es mit immer neuen Stellschrauben weiter zu optimieren gilt: Ab den 1950er Jahren setzt sich zuerst bei Rindern die künstliche Befruchtung durch. Statt der ein oder zwei Zuchtbullen vor Ort, auf die die Landwirte zuvor zurückgreifen mussten, lassen sie sich gezielt mit Sperma beliefern, das exakt zu den angestrebten Zuchtzielen passt: mehr Milch, mehr Fleisch, alles kein Problem. Melkmaschinen und -karusselle wurden eingeführt, für die die Tiere wiederum passend gezüchtet werden müssen: Wenn die Euterform nicht ganz der Norm entspricht, funktioniert die Maschine nicht. Auch mit Schweinen und Hühnern wurde experimentiert – fürs automatische Füttern, für immer größere Ställe.
Das Zusammenleben auf zu engem Raum hat seine Schattenseiten. Hühner werden aggressiv, malträtieren die Artgenossinnen, die mit ihnen den Käfig teilen. Bei Schweinen kommt es häufig vor, dass sie einander die Schwänze abfressen. Beides schadet der Produktivität: Hühner, die ständig gepickt werden, legen weniger Eier, und die verletzten Schwänze der Schweine können sich entzünden. Eine naheliegende Lösung wäre, für bessere Verhältnisse im Stall zu sorgen, damit die Tiere mehr Platz und weniger Stress haben. Weil das weniger produktiv ist, verfiel man auf eine andere Lösung: Den Hühnern und Schweinen werden Schnäbel und Schwänze vorsorglich gekürzt. Das Schnäbelkürzen ist seit 2017 verboten. Das Kupieren der Schweineschwänze findet trotz Verboten dank Ausnahmeregelungen bis heute in fast allen Ställen statt.
Settele erzählt ebenso nüchtern wie pointiert von der fortschreitenden Entleibung der Tierkörper. Von der entfesselten Ökonomisierung der Landwirtschaft, die für ethische Fragen lange Zeit keinen Raum ließ. So entfaltet »Deutsche Fleischarbeit« einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben