Ferien für die Psyche
Es ist immer noch Reisezeit – mit allem, was dazugehört: »All you can eat«-Büfetts, Staus auf den Autobahnen, reservierte Liegestühle. In 40 knapp gefassten Kapiteln beschreibt Hans-Peter Herrmann, wie sich das Reiseverhalten seit dem 19. Jahrhundert verändert hat, als der britische Geistliche und Tourismus-Pionier Thomas Cook für die ärmere Bevölkerung Leicesters eine Zugreise organisierte, um die Teilnehmer vom Alkohol abzulenken.
Auf den ersten Seiten finden sich einige trivial wirkende Erläuterungen. Beispielsweise erklärt Herrmann, dass die Sehnsucht nach Reisen im stressigen Alltag aufkeime, weil wir in vorausgehenden Urlauben Angenehmes erlebt haben. Dadurch sei Ferne für uns positiv besetzt und stelle eine Fluchtmöglichkeit aus belastenden Situationen dar. Lässt man sich von solchen banalen Ausführungen nicht vom Weiterlesen abhalten, erwarten einen interessante Fakten: So gilt die seit 1994 jährlich durchgeführte Reiseanalyse der »Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen« für die Branche als wegweisend. 2016 stellte sie zum Beispiel fest, dass 76 Prozent der Deutschen einen mindestens fünftägigen Urlaub buchten – beliebtestes Reiseziel war dabei übrigens das eigene Land.
Reisen aus dem Supermarkt
Der Autor führt aus, welche Faktoren unsere Urlaubsentscheidungen beeinflussen, zum Beispiel warum die in Supermärkten beworbenen Reisen bislang vergleichsweise schlecht angenommen werden, obwohl hinter den Angeboten oft große Anbieter wie TUI stecken und die Reisen die Feriengäste eigentlich ebenso zufrieden stellen wie jene von Reisebüros. Doch sie passten nicht zu den vergleichsweise günstigen Waren, die sonst im Supermarkt angeboten werden, wodurch dem potenziellen Käufer das Vertrauen in die Qualität des Produkts fehle.
Menschen lassen sich durch diverse Faktoren bei ihrer Wahl beeinflussen, wie Herrmann zeigt. Wird eine Reise zum Beispiel nur einmal angeboten, erscheint sie wertvoller, und man ist bereit, mehr Geld dafür auszugeben als für eine immer wieder stattfindende Tour.
Großer Beliebtheit erfreuen sich nach wie vor Reisekataloge. Anbieter investieren enorme Summen in den Druck und zum Teil auch in die Weiterentwicklung, beispielsweise in individuelle Prospekte, die nach einem ersten Gespräch im Reisebüro zusammengestellt werden. Die begrenzte Information würde die Kunden laut Herrmann nicht so überfordern wie die Informationsflut im Internet. Ebenso würden die Interessenten sie als glaubwürdig einschätzen. Der Reiseprospekt dürfte damit auch in Zukunft als Medium nicht verschwinden, meint der Autor. In einem eigenen Kapitel »Katalogsprache« ergründet er, was sich hinter manchen Ausdrücken wie »aufstrebender Ferienort« verbergen kann.
Der Autor versucht, ein breites Spektrum an Themen anzureißen: beruflich bedingte Auslandsaufenthalte (die immer häufiger werden), Bildungsurlaub, Flugangst, Urlaubsglück, mangelnde Erholung und die Zeitwahrnehmung im Urlaub. Dabei stolpert man manchmal über Pauschalisierungen, etwa: »Sind die Menschen dann an ihrem ›Traumort‹ angelangt, entsteht bald wieder eine Sehnsucht nach dem Zuhause.«
Darüber hinaus thematisiert Herrmann, welche Trends zu erwarten sind. Beispielsweise nehme das Interesse an Kreuzfahrten zu, auf Möglichkeiten der Kinderbetreuung werde immer mehr Wert gelegt. Besonders am Herzen scheint ihm das umweltverträgliche Reisen zu liegen. Der Tourist sei zugleich Verursacher wie Opfer von Umweltbelastungen. Im hinteren Buchteil macht der Autor deutlich, dass einmalige, paradiesische Räume verschwinden und Naturkatastrophen unser Reiseverhalten zwangsläufig verändern werden. Am Ende gibt es ein Glossar, das wichtige Begriffe erläutert, welche sich allerdings meist überhaupt nicht im Text finden lassen. Ebenso liefert der Band zwar viele Zahlen zum Reiseverhalten der Deutschen, allerdings kaum wissenschaftliche Belege für die beschriebenen psychologischen Urlaubsphänomene. So weiß man oft nicht, was Stand der Forschung ist und was die Interpretation des Autors.
Wer eine Vorstellung davon bekommen möchte, an welchen Stellen im Tourismus Psychologie von Bedeutung sein könnte, und mit dem ein oder anderen Rechtschreibfehler leben kann, ist mit diesem Überblickswerk dennoch gut bedient.
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