Unverständliches bleibt unverständlich
Haben Sie auch Schwierigkeiten, die Aussagen der Quantenmechanik zu begreifen? Damit befinden Sie sich in guter Gesellschaft, denn viele Berufsphysiker wollen sich auch nicht damit zufriedengeben, was die Lehrbuch-Interpretation, die so genannte Kopenhagener Deutung, über die Quantenwelt sagt. Wellenfunktionen, die bei einer Messung instantan kollabieren, und die Verschränkung von Quantensystemen gehören zu den harten Nüssen, an denen sich die Physikergemeinschaft auch knapp 100 Jahre nach der entscheidenden Arbeit von Werner Heisenberg (1901–1976) die Zähne ausbeißt. 1925, während eines Kuraufenthalts auf Helgoland, legte der junge Physiker die Grundlagen für eine Theorie, die unsere Sicht auf die Welt für immer veränderte. »Helgoland« ist daher der Titel des Buchs, in dem Carlo Rovelli seine Interpretation der Quantenphysik schmackhaft machen möchte.
Die relationale Quantenmechanik
Der Autor ist ein weltberühmter Physiker, der sich als einer der drei Begründer der Schleifenquantengravitation einen Namen gemacht hat – eine von zwei großen Theorien, die als Anwärter gelten, die Schwerkraft in das teilchenphysikalische Standardmodell zu integrieren. Daneben hat er das Konzept der »relationalen Quantenmechanik« entworfen, mit dem er die Komplikationen in der Kopenhagener Interpretation umgehen will. Diese Sicht möchte er mit seinem Buch verbreiten.
Das Werk besteht aus drei Teilen: einer mit 35 Seiten relativ knappen Einführung, wie die Quantenmechanik entdeckt und entwickelt wurde. Im zweiten Abschnitt stellt Rovelli die Paradoxien dar, die sich aus der Theorie ergeben – und wie diese verschwinden, wenn man die relationale Sichtweise einnimmt. Der dritte Teil ist der längste. Er setzt die Interpretation der Quantenphysik in Bezug zu verschiedenen philosophischen Denkern und präsentiert die Gedanken des Autors.
Der erste Teil ist gut geschrieben und stellt die wesentlichen Charakteristika der Quantenmechanik in ihren verschiedenen Formulierungen dar. Der eigentliche Kern des Buchs findet sich im zweiten Teil. Dort stellt Rovelli zunächst die Quantenverschränkung und die sich ergebenden Paradoxien vor. Anschließend reißt er kurz drei mögliche Interpretationen an, die er jeweils gleich als unglaubwürdig wieder verwirft: die Viele-Welten-Interpretation, die Theorie der verborgenen Variablen und die des fortlaufenden Kollapses der Wellenfunktion.
Schließlich gelangt Rovelli zur Beschreibung seiner relationalen Interpretation, wonach auch jeder Messapparat ein quantenmechanisches System ist, weshalb sich eine bestimmte Beobachtung immer nur bezüglich einer Messapparatur interpretieren lässt. Wenn jemand weit entfernt Messungen vornimmt, ist der entfernte Messapparat also in einer quantenmechanischen Überlagerung, die sich erst aufklärt, wenn man Information über das entfernte Labor bekommt – ein Prozess, der selbst auch wieder quantenmechanisch ist. Diese Interpretation nimmt den Quantencharakter der Welt ernst und gibt die Vorstellung auf, es gebe einen außen stehenden Beobachter, der beide Labore zugleich sehen kann.
Leider schafft es Rovelli aber nicht, diese Deutung so klar darzustellen, damit sie glaubwürdig wird. Insbesondere fehlt der wichtige Aspekt, dass diese Sicht ein quantenmechanisch konsistentes Gesamtbild ergibt. In seiner Originalarbeit aus dem Jahr 1994 wird das natürlich (mathematisch) behandelt. Doch ohne zumindest zu versuchen, diesen Punkt zu erläutern, bleibt Rovellis Text den Lesern etwas schuldig. Vermutlich hätte er mit einem kurzen Kapitel die Lücke schließen können. Ob die relationale Interpretation aber überhaupt die korrekte ist, steht unabhängig davon auf einem anderen Blatt. Zumindest gibt es in der Fachwelt genauso glühende Vertreter anderer Interpretationen.
Unverständlich bleibt, was der Autor mit dem dritten Teil bezwecken will. Er diskutiert den Geist seiner relationalen Interpretation der Quantenmechanik, indem er sie mit den Gedanken von Wladimir Lenin (1870–1924) und dessen Gegenspieler Alexander Bogdanov (ebenfalls 1870–1924), mit denen von Ernst Mach (1838–1916) sowie von Nagarjuna (einem indischen Denker des 2. Jahrhunderts) vergleicht – eine etwas skurrile Auswahl. Die folgenden Kapitel untertitelt der Autor dann sogar selbst mit »Wo ich ein wenig abschweife« und überschreibt sie etwa mit »Was bedeutet ›Bedeutung‹?«. Rovelli hätte diesen Teil des Manuskripts lieber in der Schublade belassen und dafür mehr Mühe in die eigentliche Erklärung der relationalen Quantenmechanik stecken sollen.
Drei Kuriositäten fallen noch auf: Rovellis Gedankenexperiment zur verschränkten Messung erinnert stark an Schrödingers Katze. Der Physiker ist jedoch Tierfreund genug, um in seiner Version die Katze entweder wach sein zu lassen – oder schlafend. Das nimmt dem ursprünglichen Bild die Schärfe, denn man kann sich eben sehr wohl einen Dämmerzustand zwischen wach und schlafend vorstellen – anders als bei tot und lebendig. Zu Nagarjunas Hauptwerk (»Die grundlegenden Verse des mittleren Wegs«) merkt er an, man müsse nicht fragen, was der Autor sagen wollte, sondern was der Text uns heute sagen kann. Etwas abstrus, sich vorzustellen, einen Wissenszugewinn dadurch zu erhalten, dass man eine alte Schrift anders interpretiert, als sie intendiert war.
Und schließlich läuft schon der Untertitel des Buchs dem Geist der relationalen Quantenmechanik entgegen. »Wie die Quantentheorie unsere Sicht auf die Welt verändert« müsste es viel besser heißen, denn das entspräche, was in einem Nachruf auf Heisenbergs Mentor Niels Bohr (1885–1962) zur Quantenmechanik gesagt wurde: »Es ist falsch zu glauben, die Aufgabe der Physik sei es, etwas über die Natur herauszufinden. Physik befasst sich damit, was wir über die Natur sagen können.« Ein Satz, den auch Rovelli zitiert und dessen Konsequenzen er in seiner relationalen Deutung stringent anwendet.
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