»Kosmologie«: Eine umfangreiche und auch anspruchsvolle Darstellung der Kosmologie
Mein Eindruck nach dem Lesen des über 500 Seiten starken Buchs: kompetent und anspruchsvoll. Die Darstellung der Kosmologie ist nicht populärwissenschaftlich, sondern benutzt explizit Formeln – Vertrautheit mit den Grundlagen der Analysis ist von Vorteil. Mit weniger Vorkenntnissen dürfte man dagegen Schwierigkeiten haben, dem anspruchsvollen Inhalt adäquat zu folgen. Hinzu kommt, dass Gaßner und Müller auf ihrem Buch »Können wir die Welt verstehen?« von 2019 aufbauen. Beide sind Astrophysiker und mit der Universitätssternwarte München verbunden; Gaßner ist Schüler von Müller. Ihre fachliche und didaktische Kompetenz steht außer Frage. Es gibt zahlreiche Publikationen, insbesondere zum Thema Kosmologie (einige zusammen mit Harald Lesch).
Das Buch enthält zwölf Kapitel. Los geht es mit einer 73-seitigen Darstellung der Thermodynamik, die nach Ansicht der Autoren als »Motor der Veränderung« für das Verständnis des Kosmos und seiner Entwicklung unerlässlich ist – zu Recht. Schon auf den ersten Seiten zeigt sich das didaktische Konzept. Die historisch relevanten Personen, wie etwa Helmholtz, Clausius und Boltzmann, werden in Wort und Bild vorgestellt und ihre Beiträge ausführlich erläutert. Auch moderne Aspekte der Thermodynamik spielen eine Rolle. Dabei wird explizit auf Verbindungen zu anderen Disziplinen, wie etwa der Quantenfeldtheorie, hingewiesen. Beispiele sind der Unruh-Effekt, die Hawking-Strahlung und das Rindler-Universum.
Dass es beim Lesen Überraschungen geben wird, konnte man bereits dem Vorwort entnehmen: »Sie werden mit schier unglaublichen Dingen konfrontiert, die Sie eventuell an Ihrem Verstand zweifeln lassen.« So erfährt man, dass es eine »negative absolute Temperatur« gibt und ein physikalisches System »heißer als unendlich« sein kann! Viele farbige Grafiken und Bilder sowie diverse Einschübe (z. B. zum Noether-Theorem) fördern das Verständnis. Schwierige Passagen sind durch das Verkehrszeichen »Vorsicht, Schleudergefahr« gekennzeichnet; das Zeichen für »Aufhebung« soll wohl Entwarnung bedeuten. Vertiefende Informationen können über QR-Codes abgerufen werden, es gibt auch eine Webseite.
Das zweite Kapitel ist mit »Urknall und Expansion – Das große Ganze« überschrieben; mit 125 Seiten ist es das umfangreichste. Die historische Einführung zeigt Porträts von Newton, Friedmann, Lemaître und Hubble. Das von Einstein sucht man übrigens vergebens – der Begründer der modernen Kosmologie kommt im Register nur viermal vor. Tatsächlich sind es etwas mehr Stellen, hier wurde nicht korrekt gearbeitet. Trotzdem, auch der Allgemeinen Relativitätstheorie ist nur ein kurzer Abschnitt gewidmet. Dagegen nehmen die Friedmann-Gleichungen, die Einstein zunächst aus physikalischen Gründen ablehnte, einen breiten Raum ein. Nachfolgend wird ausführlich auf die Inflationstheorie, als Lösung der Horizont- und Flachheitsprobleme, eingegangen. Hier kommen auch die beschleunigte Expansion und die obskure Dunkle Energie ins Spiel. Spekulative Konzepte, wie Ewige Inflation, Multiversum oder Schleifenquantentheorie, runden das Kapitel ab. Fans der Stringtheorie scheinen Gaßner und Müller dagegen nicht zu sein: Sie wird – vielleicht in weiser Voraussicht? – ignoriert.
Im dritten Kapitel »Das Holographische Prinzip – Leben wir in einer Matrix?« wollen uns die Autoren »kurz am Giftschrank der kosmologischen Modelle vorbeiführen«, um dann mit dem immer noch ungelösten Problem der Dunklen Materie fortzufahren. Besonders lobenswert ist das nachfolgende Kapitel »Entfernungen und kosmische Horizonte«. Fachzeitschriften, die Leserbriefe abdrucken, wie etwa »Sterne und Weltraum«, werden immer wieder mit Fragen zur relativistischen Kosmologie konfrontiert, etwa »Wie kann eine Galaxie weiter als 13,8 Milliarden Lichtjahre entfernt sein?« oder »Wie kann der Urknall ein Punkt sein, wenn doch die Hintergrundstrahlung aus allen Richtungen kommt?«. Geduldig versuchen die Redakteure, die geistigen Verknotungen zu lösen. Hier liefern Gaßner und Müller letztlich alle Antworten.
In den weiteren Kapiteln kann der Leser die anstrengende Theorie hinter sich lassen und etwas entspannen. Hier geht es um die Entstehung und Entwicklung der gängigen Objekte, angefangen bei den ersten chemischen Elementen über Sterne bis hin zu Galaxien und Galaxienhaufen. Natürlich fehlen auch Schwarze Löcher, Supernovae und Antimaterie nicht. Im abschließenden Kapitel 12 »Anthropisches Prinzip – Was hat das alles mit uns zu tun?« wird es dann wieder spekulativ.
Wer es bis hierhin geschafft hat, ist mit einer Fülle von Informationen versorgt worden, die es zu verdauen gilt. Man kann das Buch aber weiterhin als Nachschlagewerk nutzen. Dabei hilft das umfangreiche Register. Leider fehlt ein Literaturverzeichnis – soll man es sich anhand der Links selbst erstellen? Es gibt nur wenige Fehler, meist redaktioneller Art. So müsste auf Seite 35 in der Formel p = N·k·T ein kleines »n« stehen.
Fazit: Gaßner und Müller haben eine rundum gelungene Darstellung der Kosmologie vorgelegt, die keine Wünsche offenlässt. Das Buch ist inhaltlich auf dem neuesten Stand und mit großem Sachverstand in verständlicher Sprache geschrieben. Layout und Einband überzeugen. Vom Niveau und Umfang hebt es sich von vielen populärwissenschaftlichen Darstellungen wohltuend ab. Leser mit mathematisch-physikalischen Vorkenntnissen werden am meisten profitieren – vorausgesetzt, sie investieren ausreichend Zeit und Muße für die »größte Geschichte aller Zeiten«. Aber auch bei Studenten und Wissenschaftlern kann der didaktisch vorbildlich präsentierte Stoff sicher noch Wissenslücken füllen. Am Ende muss jeder selbst entscheiden, ob das eingetreten ist, was auf der Rückseite steht: »Wer sich auf dieses Buch einlässt, wird unsere Welt und die eigene Existenz mit völlig neuen Augen betrachten!«
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