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Eine unverstandene Menschheitskonstante

Die Historikerin Margaret MacMillan untersucht in ihrem Buch den engen Zusammenhang zwischen Krieg und Gesellschaft.

Für die preußischen Truppen war es eine befremdliche Erfahrung: Am 20. September 1792 standen sie bei Valmy den schlecht organisierten und spärlich ausgerüsteten französischen Revolutionstruppen gegenüber. Dennoch konnten sie die Schlacht nicht gewinnen. Denn die französischen Soldaten verhielten sich ganz anders als erwartet, sangen im Kampf Revolutionslieder und unternahmen mit offensichtlicher Leidenschaft (und sicher dem Mut der Verzweiflung) äußerst riskante Aktionen. Letztlich hielten die französischen Linien den Angriffen stand.

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), der als Begleiter des Herzogs von Weimar ebenfalls anwesend war, sprach anschließend davon, dass von diesem Tag und Ort eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgehen werde. Er hatte Recht. Denn auch in vielen folgenden Kämpfen behaupteten sich die französischen Truppen. Mehr noch: Unter ihrem charismatischen Feldherrn Napoleon Bonaparte (1769–1821) eroberten sie später große Teile Europas, sogar die Großmächte Preußen und Österreich.

Das Phänomen Krieg aus unterschiedlichen Blickwinkeln

Die kanadische Historikerin Margaret MacMillan untersucht in ihrem Buch das Phänomen Krieg aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Neben Einleitung und Fazit gliedert sie es in neun Kapitel, in denen sie die enge Vernetzung von Krieg und Gesellschaft analysiert, nach Beweggründen fragt und die Entstehung des modernen Kriegs vom Ende des 18. bis zu den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts schildert. Was bewegt Menschen dazu, in Kriegen zu kämpfen, und welche Versuche wurden unternommen, um Kriege zu kontrollieren?

Schwerpunkt für MacMillans historische Betrachtungen ist die Zeit ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert, in der sich die herkömmliche Kriegsführung in Europa änderte. Die Ursachen sieht sie zum einen in der Begeisterung der Menschen für die eigene Nation. Die Franzosen hatten sie in ihrer Revolution entfacht und durch die napoleonische Besetzung Europas auch bei anderen Völkern hervorgerufen. Ein weiterer Faktor für die Modernisierung des Kriegs war die Industrialisierung. Durch sie konnte man das Militär mit technisch immer weiter perfektionierten Waffen ausstatten und ein Massenheer mit Nachschub versorgen. Die Autorin weist darauf hin, dass die Entwicklung moderner Kriegsführung bereits im amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865), im Deutsch-Französischen Krieg (1870–1871), im Russisch-Türkischen (1877–1878), Russisch-Japanischen Krieg (1904–1905) sowie in den Balkankriegen (1912 und 1913) zu erkennen waren. Die Umstellung auf eine totale Kriegführung bezog ab dem Ersten Weltkrieg die so genannte »Heimatfront« der Zivilbevölkerung mit ein.

MacMillan zeigt an vielen Beispielen, dass Krieg und Gesellschaft bis heute tiefer miteinander verwoben sind, als wir es uns oft eingestehen. Krieg ist organisierte Gewalt, ambivalent und bis heute unverstanden. Mit ihm können bestehende Ordnungen gestürzt und neue hervorgebracht werden. Er zerstört, kann aber auch technischen Fortschritt fördern. In der westlichen Welt ist Krieg selbst in Friedenszeiten allgegenwärtig: Zwar verabscheuen wir Brutalität und Grausamkeit, aber konsumieren dennoch Kriegsfilme, -romane oder Krieg in Computerspielen. Wir bewundern den Heldenmut von Soldaten und trauern um die Gefallenen.

Die Frage nach einem gerechten Krieg stellten sich schon die Menschen der Antike. Eine bekannte Antwort lieferte der römische Anwalt und Politiker Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.). Er argumentierte, es gebe zwei Wege, einen Streit zu lösen: den Weg der Menschen durch Rechtserörterung und den der Tiere durch Gewalt. Nur wenn Ersterer nicht angewandt werden könne, dürfe der Mensch zur Gewalt greifen. Wie die vielen noch folgenden Definitionsversuche eines gerechten Kriegs zeigen, wird die Frage bis heute diskutiert.

Zwar versuchten die europäischen Nationen, Russland und die USA ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, Kriege durch internationale Abkommen einzugrenzen und zu kontrollieren. Doch MacMillan schildert in diesem Zusammenhang auch die Belustigung des mexikanischen Guerilla-Führers Pancho Villa (1878–1923), als er die Bestimmungen der Haager Konvention von 1907 las. Es erschien ihm völlig absurd, Regeln für einen Krieg aufzustellen. Die Weltkriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts konnten durch solche Regeln nicht verhindert oder eingedämmt werden. Selbst nach 1945 hat es bis heute kein Jahr gegeben, an dem nicht irgendwo auf der Welt gekämpft wurde. Warlords des 21. Jahrhunderts dürften wohl noch heute mit ähnlicher Belustigung wie einstmals Pancho Villa reagieren.

Zu den vielen Fragen, die das Buch aufwirft, zählt auch die nach zukünftigen Kriegen. MacMillan prognostiziert, dass es wohl weiterhin Kriege zwischen Armeen mit Hightech-Ausrüstung und einer hochorganisierten Gesellschaft im Hintergrund geben wird. Ebenso werde es Kriege zwischen locker organisierten Verbänden geben, die schlecht bewaffnet sind und eher in Bürgerkriegen kämpfen. Wie die aktuellen Beispiele Syrien, Irak oder Afghanistan zeigen, werden sich beide Arten allerdings wohl auch weiterhin überlappen. Kriege zwischen großen Staaten erscheinen ihr nach wie vor möglich.

Letztlich, so MacMillan, geht es auch um die Natur des Menschen und den Charakter der Gesellschaften. Ist uns der Krieg vielleicht sogar genetisch angeboren? Sie gibt zu bedenken, dass auch Schimpansen, mit denen wir 99 Prozent unseres Erbguts teilen, regelrechte Kriege gegeneinander führen.

Die Historikerin legt ein fundiertes Sachbuch vor, das sich dem Phänomen in seiner ganzen Ambivalenz widmet. Zwar ist der Untersuchungsgegenstand keineswegs neu, aber nach wie vor ungelöst und – wie die Brandherde der Welt zeigen – hochaktuell. MacMillan kann keine abschließenden Antworten liefern, doch sie macht deutlich, wie eng unsere moderne westliche Gesellschaft des 21. Jahrhunderts mit historischen und aktuellen Kriegen verwoben ist. Mit ihrem Buch führt sie die Leserinnen und Leser verständlich in die Problematik ein und regt dabei sowohl interessierte Laien wie historische und politikwissenschaftliche Fachleute zum Nachdenken an.

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