»Nexus«: Zwischen Enthusiasmus und Schwarzmalerei
Bahnbrechende technische Errungenschaften werden häufig mit großem Jubel begrüßt. Tausende Menschen feierten 1835 in Nürnberg die Fahrt der ersten Eisenbahn nach Fürth. Das Fernsehen erfreute sich trotz der hohen Kosten für die Geräte in den 1950er Jahren schnell großer Beliebtheit. Und nicht wenige erwarten von der künstlichen Intelligenz die Rettung der Menschheit, die Kriege obsolet macht, die Klimakrise überwindet und überhaupt ein neues Zeitalter des Wohlstands ermöglicht.
Allerdings gehörten und gehören zu technischem Fortschritt immer auch jene Menschen, die vor ihm warnen oder ihn rundweg ablehnen. So waren sich im 19. Jahrhundert beispielsweise einige Experten sicher, dass Geschwindigkeiten jenseits der 30 Stundenkilometer dem menschlichen Gehirn einen unumkehrbaren Schaden zufügen würden. Das Fernsehen sollte Realitätsverlust bedingen, und die künstliche Intelligenz könnte, so heißt es heute, die Menschheit eines Tages auslöschen. Was die Aussagen von Enthusiasten wie Schwarzmalern eint, ist der Mangel an fundierten Daten – die Technologie war und ist einfach noch zu neu für belastbare Erfahrungswerte.
Fortschritts- und Technikkritik kennzeichnet auch »Nexus« von Yuval Noah Harari. Der israelische Historiker und Hochschullehrer an der Hebräischen Universität Jerusalem legt ein Buch vor, das sich vor allem mit Informationsnetzwerken befasst. Ausgehend von der Steinzeit und den mündlichen Erzählungen am Feuer über die Erfindung des Buchdrucks bis hin zur künstlichen Intelligenz nimmt Harari den Leser mit auf einen Streifzug durch die Geschichte. Dabei erläutert er, wie die Verbreitung und Verarbeitung von Information in den jeweiligen Epochen vonstattengingen.
Während hierbei die Informationsnetzwerke der Vergangenheit sehr schön beleuchtet werden, bricht sich besonders in den Abschnitten zur künstlichen Intelligenz eine sehr kritische Haltung Bahn, die argumentativ bisweilen kaum gerechtfertigt scheint. Besonders die apokalyptischen Aussagen zu generativen KI-Systemen werden mit Behauptungen unterfüttert, die nach jetzigem Wissensstand nicht zu belegen sind. So prognostiziert der Autor, in Zukunft werde die künstliche Intelligenz »sogar lernen, neue Lebensformen zu erschaffen, entweder durch die Programmierung von genetischem Code oder durch die Erfindung eines anderen organischen Codes, der nicht-organische Wesen belebt.« Hier ist einerseits die Rede von der sogenannten Singularität, bei der die Intelligenz der Maschine die des Menschen übertrifft und die sich selbst optimieren und vervielfältigen kann.
Ob dieser Punkt überhaupt erreicht werden kann, ist allerdings unter Experten höchst umstritten – während der Autor diese Entwicklung als zwangsläufig darstellt. Man könnte nun einwenden, dass Hararis Betrachtungen zur künstlichen Intelligenz einerseits nur einen Teil des Werks ausmachen – allerdings einen sehr großen, denn zwei der drei Teile des Buchs befassen sich direkt oder indirekt damit – und es sich bei ihnen andererseits um informationsgeschichtliche Überlegungen handelt, die als solche nicht zwingend konkrete Technologien postulieren. Dennoch sind die Prämissen, auf denen Harari seine Argumentation gründet, mit Blick auf mögliche technologische Entwicklungen doch arg spekulativ.
Nicht immer auf der Höhe der Diskussion
Unangenehm fallen zudem von seinen persönlichen Ansichten gefärbte Passagen über einige der wichtigsten Denker der Postmoderne und des Postkolonialismus auf. Ihnen unterstellt er die Überzeugung, »›wissenschaftliche Tatsachen‹ […] seien nichts anderes als kapitalistische oder kolonialistische ›Diskurse‹«. Solche aus dem Kontext gerissenen Aussagen sind typisch für die Kritik an Denkern wie Michel Foucault (1926–1984) oder Edward Said (1935–2003), denen gern eine Philosophie des »anything goes« zugeschrieben wird – eine unterkomplexe Darstellung, wie sich die Forschung weitgehend einig ist. Neben Schwächen wie diesen bietet das Werk aber immer wieder auch hochinteressante Gedanken. So formuliert Harari etwa schlüssig einen Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Kolonisierung, indem er die imperialistischen Gelüste der europäischen Staaten im 19. Jahrhundert durch den Rohstoffbedarf einer sich industrialisierenden westlichen Welt erklärt.
Harari schreibt über das gesamte Werk hinweg sehr eingängig, Zusammenhänge werden verständlich erklärt, Vorwissen ist prinzipiell nicht nötig. Allerdings könnten dieser klare Stil und die über weite Strecken geschickte Argumentation des Autors Leser ohne einschlägiges Fachwissen dazu verleiten, auch die Passagen unkritisch aufzunehmen, die allzu sehr von Hararis persönlicher Meinung geprägt sind. »Nexus« ist somit ein interessantes und anregendes Buch, das aber nicht in jeder Hinsicht den aktuellen Stand der Diskussion widerspiegelt. Denn wie schon bei den Premieren von Eisenbahn und Fernsehen ist eine kritische Sicht auf eine Zukunftstechnologie wie die künstliche Intelligenz nicht an sich verwerflich – sofern sie die verfügbaren Daten gerade der technologischen Entwicklung angemessen berücksichtigt. Das tut Harari nicht immer.
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