Mythische Ureinwohner
»Sturmfest und erdverwachsen« seien die Niedersachsen, heißt es im Niedersachsenlied. Von einem Braunschweiger Lehrer 1926 gedichtet, sollte diese heimliche Hymne besonders ab 1946 eine gemeinsame Identität im neu gegründeten Bundesland heraufbeschwören. Vor allem der blutige Widerstand gegen äußere Feinde wie die Römer und die Franken, so die Botschaft, habe die Ureinwohner der Region »von der Weser bis zur Elbe, von dem Harz bis an das Meer« zusammengeschweißt. Damit greift der Text den Mythos vom wehrhaften und heidnischen Volk der Sachsen auf, der im 19. Jahrhundert entstand. Laut dieser Erzählung haben die Sachsen ab dem 3. Jahrhundert das nördliche rechtsrheinische Gebiet bis zur Elbe gegen Eroberer aus dem Westen verteidigt, wurden von Karl dem Großen blutig missioniert und schwangen sich schließlich selbst auf den deutschen Thron.
Doch wer waren die »Ureinwohner Niedersachsens« wirklich, und was haben sie mit den »Saxones« zu tun, die in den lateinischen Geschichtsbüchern immer wieder auftauchen? Dieser Frage geht die ebenfalls »Saxones« betitelte niedersächsische Landesausstellung nach, die ab dem 22. September im Braunschweigischen Landesmuseum zu sehen ist.
So vielfältig wie die Landschaft
Begleitend zur Schau ist dieser umfangreiche, sehr ansprechend gestaltete Katalog erschienen, der den aktuellen Stand der Sachsenforschung anschaulich zusammenfasst. Internationale Expert(inn)en umreißen hier in kurzen Kapiteln die Geschichte jenes Gebiets, auf dem heute Niedersachsen liegt, während des ersten nachchristlichen Jahrtausends. Vom einheitlichen Volk, das der nationalistische Mythos beschwört, bleibt da nicht viel übrig. Vielmehr war die Bevölkerung dieser Zeit vermutlich so vielfältig wie die niedersächsische Landschaft, die von der Küste bis ins Mittelgebirge reicht. Ebenso facettenreich wurde der Begriff »Saxones« verwendet.
Die Römer bezeichneten damit zunächst eines der »barbarischen« Völker Germaniens, das vor allem an der Nordsee siedelte. Der Name steht vermutlich in enger Verbindung mit dem Begriff »Sax«, der in den germanischen Sprachen ein Messer oder ein kurzes Schwert – und im Frühmittelalter ganz konkret eine einschneidige Hiebwaffe – bezeichnet. Beide Wörter gehen etymologisch auf die Wurzel *sah für »schneiden« zurück, erklärt der Archäologe Philipp Sulzer. »Sachsa« (von althochdeutsch sahs) bedeutete also möglicherweise einfach »Mann mit Messer«. Dieses Merkmal könnte dazu geführt haben, dass ab dem vierten Jahrhundert verschiedene Gruppen, die regelmäßig von der See aus die Küstenregionen in Gallien und Britannien überfielen, unter dem Namen zusammengefasst wurden. Im 6. Jahrhundert fanden sich »Sachsen« dann vor allem östlich des Rheins, wo sie spätestens im 8. Jahrhundert zu den prominentesten Feinden der Franken wurden. Doch auch in Franken selbst und in Britannien lebten »Saxones«. Menschen, die sich selbst so genannt haben, lassen sich erstmals mittels sächsischer Schriftquellen aus dem 9. Jahrhundert belegen – allen voran in Widukind von Corveys »Res Gestae Saxonicae« (»Tatenbericht der Sachsen«). Insgesamt erscheint die Verwendung des Begriffs dermaßen uneinheitlich, dass der niederländische Sprachhistoriker Robert Flierman in seinem einführenden Kapitel zu dem Schluss kommt: »Sächsische Identität: Das ist ein soziales Konstrukt, das jede Generation neu erschuf.«
Die Ausstellungsmacher und Herausgeber lassen sich von dieser unsicheren Definition nicht entmutigen und stellen in neun zeitlich sortierten Abschnitten dar, welche Menschen im 1. Jahrtausend zwischen Nordsee und Harz siedelten, mit wem sie Kontakte pflegten oder Kriege führten. Da die Schriftquellen äußerst spärlich sind, liefert vor allem die Archäologie hierauf Antworten. Die Ausstellung befasst sich mit diversen Fundplätzen in Niedersachsen und einigen Nachbarregionen, die verschiedene Facetten der damaligen Kulturen beleuchten. Der Katalog setzt die Fundstücke in hervorragenden Bildern in Szene. Viele Erkenntnisse werden hier erstmals einem größeren Publikum präsentiert, und es kommt auf beeindruckende Weise heraus, wie aussagekräftig selbst kleine Funde sein können. Eine Erkenntnis drängt sich besonders auf: In der Region trafen ganz unterschiedliche Kulturen aufeinander.
Die kriegerische Dimension diese Kontakte zeigt sich etwa auf dem Schlachtfeld des so genannten Harzhorn-Ereignisses, einer bisher kaum beachteten militärischen Auseinandersetzung im Westharz. Germanische Krieger hatten hier im Jahr 235 ein römisches Heer überfallen, das sich vermutlich auf dem Rückmarsch von einer Expedition zur Elbe befand. Sowohl germanische als auch römische Waffen, Rüstungsgegenstände und Münzen haben Altertumswissenschaftler seit 2008 hier frei gelegt. Andere Ausgrabungen belegen, dass zwischen Römern und den Bewohnern der rechtsrheinischen Gebiete rege Handel getrieben wurde und in dem Zusammenhang Geld, Schmuck, Keramik und andere Wertgegenstände in die Region gelangten. Lange Zeit wunderte man sich über das Fehlen reich ausgestatteter »Kriegergräber« auf niedersächsischem Gebiet, wie sie beispielsweise im mitteldeutschen Raum vorkommen. Neuere Funde – etwa aus der kleinen Gemeinde Grethem – belegen aber, dass sich auch die Bewohner des Elbe-Weser-Dreiecks mitunter sehr repräsentativ bestatten ließen. Nur favorisierten sie, im Gegensatz zu ihren Nachbarn, die Brandbestattung.
Ein weiteres Kapitel behandelt südskandinavische Handelsposten aus dem 6. und 7. Jahrhundert, unter anderem in der Altmark (Sachsen-Anhalt), die ebenfalls großen Einfluss auf die benachbarte Bevölkerung ausübten. Überhaupt gilt, was die Kuratorin Babette Ludowici im Zusammenhang mit dem Gräberfeld von Buxtehude-Immenbeck schreibt: »Ihren erkennbaren Wohlstand verdankten die Menschen dort den klassischen Erfolgsprinzipien der Menschheit – Migration, Handel und Austausch von Ideen.«
Das änderte sich auch nicht, als die Römer aus dem westeuropäischen Machtgefüge verschwanden. Enge Verbindungen gab es etwa zwischen den »frühen Niedersachsen« und dem Reich der Thüringer, das 531 von den Franken zerstört wurde. Letztere übernahmen spätestens im 8. Jahrhundert die Vormachtstellung in der Region und unterwarfen unter Karl dem Großen die von ihnen als »Sachsen« bezeichneten Bewohner. Die Propaganda der Karolinger erhob den Kampf gegen die östlichen Nachbarn zum Glaubenskrieg, doch war den Sachsen das Christentum weit weniger fremd, als die Karolinger behaupteten. Bereits 919 stellten die Sachsen mit Heinrich I. den ostfränkischen König – und begannen ihre eigene Geschichte zu schreiben, etwa in Gestalt von Widukind von Corvey. Den Namen »Saxones« hatten sie zu dieser Zeit bereits für sich übernommen.
Spätestens in dieser Phase, die unter anderem von Klostergründungen geprägt ist, beginnt die Zahl der Schriftquellen zuzunehmen. Der Katalog berichtet darüber, wie und vor welchen Hintergründen sie entstanden, und beurteilt ihre Aussagekraft. Hier – wie auch in allen vorangehenden Kapiteln – liefert er zahlreiche Literaturverweise und hilfreiches Kartenmaterial. Positiv hervorstechen zudem die künstlerischen Darstellungen des renommierten archäologischen Illustrators Kelvin Wilson, der Einblicke darin gibt, wie er die Vergangenheit visuell zum Leben erweckt.
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