»Takt«: Hommage an ein fast vergessenes Gefühl
Entgleisende Debatten auf Social Media, Hasskommentare, Identitätspolitik und permanente Selbstdarstellung – sowohl online als auch offline werden Meinungen immer ungefilterter und lauter geäußert. Die Fronten verhärten sich, und echtes Zuhören scheint zunehmend unmöglich zu werden. Inmitten dieser Polarisierung sieht der Philosoph und ehemalige Journalist Martin Scherer ein fast vergessenes Konzept als Lösung: das Taktgefühl. Es könnte, so Scherer, den zwischenmenschlichen Umgang deutlich verbessern und für mehr Miteinander sorgen.
Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff »Taktgefühl«? Während einige dabei an Musik und Rhythmus denken, verbinden ihn andere vielleicht mit altmodischem oder übertrieben vorsichtigem Verhalten. Oft fällt der Begriff »taktlos«, wenn jemand unangemessen direkt fragt, etwa, warum ein Paar keine Kinder hat. Für Scherer jedoch ist Taktgefühl eine feine Balance aus Höflichkeit, Feingefühl und Zurückhaltung.
Um dieses Konzept näher zu erläutern, setzt der Autor in seinem rund hundertseitigen Essay zunächst bei der Höflichkeit an – einem Verhalten, das in seiner Definition wenig mit Ehrlichkeit oder Authentizität zu tun hat. Höflichkeit sei eine Maske, und das, so Scherer, sei durchaus positiv. Anhand von Autoren aus der Renaissance schlüsselt er nachvollziehbar auf, wie Höflichkeit in früheren Zeiten das Überleben am Hof gegenüber einem willkürlichen Herrscher sicherte, etwa durch ritualisierte Umgangsformen. Um Ehrlichkeit sei es dabei nicht gegangen; vielmehr ums Verschleiern der eigenen Meinung zum Selbstschutz. Eine Aussage könne ehrlich gemeint sein, müsse dies aber nicht. Auch heute sei dieses Verhalten noch nützlich: »Man ersetze nur Herrscher durch Vorstand, Ministerin, Bischof oder Chefredakteurin.« Scherers Argumentation ist einerseits nachvollziehbar und in einigen von ihm beschriebenen Situationen sicherlich auch vorteilhaft. Allerdings geht der Autor nicht darauf ein, inwiefern so eine höfliche Maske dem Träger auch schaden und beispielsweise zu innerer Isolation beitragen kann. Dass durch höfliches Verhalten eher keine zwischenmenschliche Nähe entsteht, benennt er aber: »Höflichkeit ist nicht Intensität, Intimität oder Berührung.«
Das Gespür für die Situation
Taktgefühl hingegen lasse Momente der Nähe zu. Es basiere nicht auf festen Regeln, sondern auf einem feinen Gespür für die jeweilige Situation, erfordere aber zugleich eine gewisse Distanz, so Scherer. Er unterscheidet es klar von Mitgefühl und Einfühlung: »Takt gibt Raum – und ist insofern das Gegenteil von Mitgefühl, als es sich allenfalls eine Ahnung vom Seelenzustand des anderen zutraut und diesem Abstand wahrend begegnet.« Im Modus der Einfühlung, warnt er, begegne man oft nur sich selbst. Erst die Distanz, die für das Taktgefühl so entscheidend ist, ermögliche es, den anderen in seiner Andersheit wahrzunehmen und auszuhalten. Dieses »unüberwindbare Nicht-Verstehen« solle weder zu Streit noch zu Kränkungen führen. Wirkliche Nähe entstehe erst, wenn man den anderen in seiner Andersartigkeit akzeptiere. Hier greift Scherer auf Gedanken Rainer Maria Rilkes zurück und betont die Notwendigkeit einer respektvollen Distanz, die das Fremde nicht überwältigt, sondern es ehrt.
Wer Denkanstöße zu den Themen Nähe und Distanz, Taktgefühl und Höflichkeit sucht, eine Vorliebe für elegante Sprache hat und eher an einer theoretischen, philosophischen Reflexion interessiert ist, wird dieses Buch zweifellos genießen. Was jedoch etwas zu kurz kommt, sind konkrete Beispiele für taktvolles Verhalten im Alltag. Auch praktische Fragen bleiben offen: Wie kann Feingefühl denn nun in einer lauten Debattenkultur Gehör finden? Wann ist Kritik unvermeidlich? Und wie verhindert man, dass Taktgefühl in eine bloße Vermeidungstaktik umschlägt, bei der Konflikte unter den Teppich gekehrt werden? Wer auf der Suche nach praktischen Anleitungen ist, sollte daher lieber zu einem anderen Buch greifen.
Scherer zeigt eine Vorliebe für auf den ersten Blick altmodisch wirkende Werte und versucht, diese in unsere heutige Zeit zu übertragen – wie bereits in seinen früheren Werken über Hingabe und den Lebensstil des Gentlemans. Insgesamt ist sein Essay ein lesenswertes Plädoyer für das Aushalten und Würdigen des Andersseins. Denn es bestünde ja die Möglichkeit, wie er charmant anmerkt, »dass der andere kein Vollidiot sein könnte.«
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