»Von der Kunst, die Früchte zu zähmen«: Die Geschichte des Obstanbaus
Im früheren Sprachgebrauch verstand man unter »Zähmen« die Haltung von Tieren und den Anbau von Pflanzen über Jahrtausende hinweg. Nachdem die Bewohner einer Landschaft sesshaft geworden waren, entstanden so unsere heutigen Haustiere und Kulturpflanzen. Auch der Begriff »Obstgarten« wird kaum noch verwendet. Kommerziell ausgerichtete Kulturen heißen nun »Plantagen«, alle anderen sind – weit gefasst – »Streuobstwiesen«. Der kanadische Originaltitel »Früchte zähmen: Wie Obstgärten die Landschaft veränderten, sich als Schutzgebiete anboten und zur Kreativität anspornten« trifft den Inhalt des außerordentlich vielseitigen Buchs besser als der deutschsprachige Titel. Das weiß man aber erst nach der Lektüre.
Und die lohnt sich allemal. In 18 Kapiteln breitet der Autor Bernd Brunner das weit gefächerte Material zum Thema aus. Einzig zum Lebensraum »Streuobstwiese« (heute allgemein als artenreichstes biologisches Ökosystem zumindest bei uns in Mitteleuropa anerkannt) findet man keinen eigenen Passus, sondern nur eine kurze begleitende Erwähnung an einer anderen Stelle. Wahrscheinlich, weil es dazu bereits umfangreiche Literatur gibt. Die Schwerpunkte der einzelnen Aufsätze liegen entweder beim Nutzen der Früchte für unseren Hunger oder auf der ästhetischen Seite: beim Genuss mit allen Sinnen – und das mit Beispielen aus allen Kontinenten der Erde.
Von den ersten Olivenhainen zu den beliebten Streuobstwiesen
Unsere Vorfahren haben schon vor 300 000 Jahren Früchte gesammelt, also mindestens 100 000 Jahre ehe der Homo sapiens Afrika verließ. Man fand die Überreste zusammen mit passenden Werkzeugen im nördlichen Jordantal. Während der Sesshaftwerdung begann mit der Errichtung von Hecken als Begrenzung von Nutzflächen und dem Pflanzen bestimmter Bäume die Vorstufe der Anlage von Obstgärten. Dabei gab es erstmals bewusst eine Zähmung: Man säte oder pflanzte nur solche Sorten, die gewünschte Eigenschaften (Größe, Geschmack, Duft, Fettgehalt, Wirkstoffe, …) versprachen. Dazu gehörten Oliven, Datteln, Feigen und Granatäpfel. Für Olivenbäume lässt sich das bis in die Übergangszeit von der Alt- zur Jungsteinzeit (15 000;–10 000 v. Chr.) nachweisen.
Für Mitteleuropa spielte der Apfel die größte Rolle. Er ist ein Kreuzungsprodukt von Wildäpfeln aus dem zentralasiatischen Raum, und moderne genetische Methoden ordnen alle kultivierten Äpfel heute Malus pumila zu. Die so genannte Veredelung durch Anbringen von »Edelreisern« auf eine »Unterlage« hat man inzwischen zu höchster Vervollkommnung gebracht. Die Sortenvielfalt rief einen neuen Zweig angewandter Botanik ins Leben, die Pomologie. Oft waren es Pfarrer, Apotheker und Lehrer, die Ordnung in die unübersehbare Vielfalt zu bringen versuchten. Dabei kamen auch seltsame Dinge zu Tage. Der Pfarrer J. C. Jacob Oberdieck (1794–1880) schaffte es, auf einem einzigen Apfelbaum 300 Sorten zu veredeln. Auch der Pfarrer Korbinian Aigner (1885–1966) prägte das Gebiet: Als er 1941 im Konzentrationslager Dachau gefangen war, musste er in der »Versuchsanstalt für Gewürzpflanzenanbau« arbeiten. Ihm gelang die Zucht von vier Apfelsorten (KZ-1 bis KZ-4), wobei sich die Sorte KZ-3 als Treffer erwies. Er konnte die Sämlinge hinausschmuggeln und flüchtete in ein Kloster, wo er sich versteckte. KZ-3 wurde ein erfolgreicher Wirtschafts- und Tafelapfel und ist heute als Korbiniansapfel bekannt.
Die schöne Bebilderung im Buch zeugt davon, wie stark Obstgärten oft auch namhafte Künstler wie Cézanne, Renoir, Pissarro oder van Gogh angeregt haben. Renoir hatten es vor allem Gartenszenen angetan, und er ließ sich sogar ein kleines Gartenhaus in einem Olivenhain bauen. Die Ägypter schufen Wandmalereien, die Römer vor allem Mosaiken.
Bedauernswert und teilweise katastrophal sei vor allem der heutige Sortenverlust bei allen wichtigen Obstarten, so der Autor. In den USA sind von 17 000 Apfelsorten nur 4000 erhalten, wobei 15 davon 90 Prozent der Ernte erbringen, allen voran »Golden Delicious«. Erfreulich hingegen sei die Neubelebung des Quittenanbaus bei uns. Auch an anderer Stelle gibt es Hoffnung: An der Elfenbeinküste und am Indischen Ozean hat man festgestellt, dass Palmenflughunde bei der Wiederbesiedelung gerodeter Flächen helfen: Sie fressen die verschiedensten Früchte, die bis zu neun Stunden im Verdauungstrakt bleiben, während die Tiere große Strecken zurücklegen. Bereits mit Dünger versehen, haben die Samen dann eine gute Startchance. So können sogar neue Ökosysteme entstehen.
Eine Wiederentdeckung von Gärten, die Erhaltung von Obstwiesen und des Straßengrüns mit Obstbäumen wären wünschenswert. Die Zunahme von Vorgärten aus Steinen oder bloßem Rasen mit Palmen und Bananen macht da kaum Hoffnung. Das Buch könnte helfen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen.
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