»Wunschland«: Visionen für eine bessere Welt
»Imagine«, singt John Lennon, »imagine there's no countries, nothing to kill or die for and no religion, too. Imagine all the people livin' life in peace.« Das Lied sollte nicht nur eine Friedenshymne sein. Zusammen mit Yoko Ono machten sie die Songzeilen zu einem Statement für eine von ihnen gegründete Welt: Nutopia. »Nutopia has no land, no boundaries, no passports, only people.« Beide beantragten für ihr Wunschland die Anerkennung bei der UN, fanden aber kein Gehör.
Aber es gibt viele real-utopische Projekte, die Menschen auch tatsächlich ausprobiert haben. Welche das sind und auf welchen Prinzipien sie aufbauen, schildert der Soziologe Stefan Selke in seinem Buch »Wunschland«. Er beschreibt die durchorganisierte Musterstadt Fordlândia im Amazonas, die Henry Ford 1928 erschuf, um Latex für seine Autos zu produzieren; das 1968 gegründete Auroville in Indien, wo nach kosmischer Einheit gesucht wird; anarchistische Reformkommunen; hocheffiziente Smart Cities oder geplante Unterwasserstädte. Es kommen einige Beispiele zusammen, denn schon seit jeher haben sich Menschen aufgemacht, um eine bessere Welt zu erschaffen. Eines eint alle Utopien: die Hoffnung auf einen Neubeginn, die Hoffnung, »dass es besser wird oder zumindest das Schlimmste« nicht eintreffe.
Mehr Dystopie als Utopie
Inzwischen träumen Menschen jedoch selten von besseren Welten. Fortschreitende Selbstzerstörung, deren Überschriften von Jahr zu Jahr schriller klingen, lassen eher an Dystopien glauben: zukünftige Welten, in denen alles schlechter ist. Ob Kriege, Corona-Pandemie oder Klimawandel, Menschen sehen eher Endzeitwelten auf sich zukommen, wie sie die Filme von »Mad Max« sehen, in denen klimatische und zivilisatorische Gewohnheiten zerstört sind.
Warum die bisher gelebten Utopien so oft scheiterten, liege vielleicht daran, dass die Erkundung des Neuen häufig von moralischen, praktischen oder totalitären Fragen »überwuchert« sei. Menschen, die utopische Welten gründen, versagten, und die »Magie der Ankunft« dauere dann nicht lange an – die real-utopischen Experimente geraten zur soziologischen Katastrophe.
Selke seziert die bisherigen, gescheiterten Projekte, damit es künftig besser gelingt, eine neue Gesellschaftsordnung umzusetzen. Wichtig sei ein offener Geist, der sich nicht festlegt. Es brauche Menschen mit Utopielust – einen neuen Menschentyp: keine kopierten Existenzen, sondern mehrdimensionale Persönlichkeiten, deren Motive sich aus dem Kummer der Welt und dem Träumen für eine bessere Zukunft zusammensetzen. Am besten wäre es sogar, wenn Utopien Unterrichtsstoff würden, wünscht sich Selke. Utopien müssten offen bleiben. Damit unterschieden sie sich von totalitären Versionen, die wie in Jonestown auch mal in einem Massenselbstmord enden.
Vielleicht müssten die grundlegenden Innovationen des 21. Jahrhunderts sozialer und nicht technologischer Natur sein. So sieht es zumindest Selke, auch wenn er die Aufgaben von Technik und Roboter gerade bei einer möglichen zukünftigen Besiedlung des Weltraums oft erwähnt.
Immer wieder taucht im Buch das All als Sehnsuchtsort für neue Wunschwelten auf. Das könnte daran liegen, dass der Soziologieprofessor einige Semester Luft- und Raumfahrttechnik studiert hat. Die nächste Utopie sieht der Autor aber doch eher auf der Erde. Spätestens wenn Menschen zu den ersten Marskolonien aufbrechen, sollten sie allerdings über eine grundlegend neue Art des Zusammenlebens nachdenken und die neue Welt nicht zu einer verstaubten Kopie irdischer Orte machen, mit Supermärkten, Imbissstuben und Parkhäusern für Geländewagen.
Viele real-utopische Welten, an denen sich Menschen versucht haben, stellt Selke ausführlich vor. In den Texten ist der Autor als Sozialwissenschaftler zu erkennen, was das Buch wissenschaftlich und nie reißerisch macht. Beim Lesen stößt man auf viele Zitate, wissenswerte Fakten und Quellenangaben. Wohltuend: Man merkt dem Werk die vielfältigen und komplexen Recherchen an, in denen der Autor unterstützt wurde.
Eines hält Selke für sicher: »Solange es träumende Menschen gibt, ist Scheitern nie endgültig. Immer gibt es Hoffnung auf ein besseres Leben. Genau in dem Moment, in dem wir beginnen, über das Wunschland nachzudenken, entsteht es. Ein alternativer Begriff dafür ist: Schöpfung.«
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