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Unwandelbarer Wandel

Aus den ersten primitiven Einzellern entsteht die Vielfalt des Lebens auf der Erde, aus einer einzelnen Eizelle ein ganzer Mensch, aus einer Ansammlung kaum verbundener Nervenzellen ein komplex verschaltetes, leistungsfähiges Gehirn und aus Horden von Höhlenmenschen unsere vielschichtige moderne Gesellschaft: Jeder dieser Prozesse ist überaus komplex und alles andere als einfach zu erklären. Aber der Molekularbiologie Enrico Coen aus Norwich (Großbritannien) versucht nicht nur das; er behauptet sogar, sie alle auf sieben Grundprinzipien zurückführen zu können: Variabilität, kombinatorischen Reichtum, Persistenz, Verstärkung, Wettbewerb, Kooperation und Rekurrenz. Variabilität bedeutet, dass ein Merkmal in verschiedenen Versionen vorkommt. Gäbe es diese Unterschiede nicht, könnte die natürliche Selektion nicht das Fitteste unter vielen Individuen wählen, eine Eizelle sich nicht in verschiedene Zelltypen weiterentwickeln und eine menschliche Gesellschaft keine unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen bilden.

Das Prinzip des kombinatorischen Reichtums besagt, dass eine begrenzte Anzahl unterschiedlicher Merkmale bereits unvorstellbar viele Kombinationen ermöglicht – und damit ebenso viele Richtungen, in die ein Wandlungsprozess voranschreiten kann. Damit dieser Prozess nicht ausufert, muss ihm ein gewisses Beharrungsvermögen („Persistenz“) Einhalt gebieten. DNA wird bei allen Mutationen im Wesentlichen getreu kopiert, alle Nachkommen einer Eizelle finden zu einer funktionierenden Einheit zusammen, zum Wandel durch Lernen gehört das Behalten des Gelernten, Kulturen leben von Traditionen. Die bereits genannten Prinzipien für sich genommen würden das System irgendwann in ein stabiles Gleichgewicht und damit zum Stillstand führen. Es muss einen Mechanismus geben, der immer wieder Instabilität erzeugt. Coen nennt ihn „Verstärkung“, gekoppelt mit „Wettbewerb“. Damit meint er im Kontext der Evolution die Selbstverstärkung einer erblichen Eigenschaft, die sich gegen andere durchsetzt, weil sie einen Selektionsvorteil bietet. Bei der Entwicklung des Embryos können Proteine ihre eigene Produktion ankurbeln, wenn der Körper mehr von ihnen braucht. Beim Lernen spornt die Bildung neuer Nervenbahnen sich selbst immer weiter an – je mehr wir lernen, umso mehr Verbindungen werden neu geknüpft. Auch kulturell setzen sich erfolgreiche Handlungsweisen gegenüber weniger effizienten durch.

Doch nicht immer führt Wettbewerb zu Konkurrenz. Im Gegenteil: Oft schließen sich einzelne Individuen zu Gruppen zusammen, um gemeinsam stärker zu sein. Dies betrifft nicht nur menschliche Bevölkerungen – das Prinzip der Kooperation findet man auch zwischen einzelnen Zellen und in Ansätzen sogar auf Molekülebene. Kooperation ist in vielerlei Hinsicht sogar überlebensnotwendig. Denn würden sich in einer Zelle einzelne Proteine gegenseitig blockieren, könnte diese nicht überleben, und die Proteine hätten ihren Wirkungsraum verloren. Auch Nervenzellen kooperieren auf komplexe Weise miteinander, indem sie Signale gemeinsam zum Gehirn weiterleiten – ähnlich wie Menschen, die gemeinsam eine Gesellschaft prägen. Das letzte Prinzip, das Coen aufführt, ist das der Rekurrenz. Dieses besagt, dass es immer etwas gibt, das verbessert werden könnte, denn es geht nie darum, einen gewissen Punkt zu erreichen, sondern stets darum, im Wettbewerb zu gewinnen.

In der Evolution setzt sich meist eine Art durch, die besser an ihre Umgebung angepasst ist als eine andere. Dadurch sind nach und nach alle Überlebenden gleich gut angepasst und konkurrieren dann miteinander in anderen Bereichen. Auch in der embryonalen Entwicklung ist Rekurrenz vorherrschend: Hat sich ein Organ ausgebildet, beeinflusst es alle anderen. Der Wandel endet dadurch aber nicht, sondern geht basierend auf diesen neuen Gegebenheiten weiter. Und auch Kulturen, die sich durchsetzen, bleiben nicht unwandelbar, denn sie müssen sich stets mit neuen kulturellen Konkurrenten befassen.

Enrico Coens Vorhaben ist zugegebenermaßen ehrgeizig. Von der Entstehung des Lebens bis zur Entwicklung von Hochkulturen will er alles erklären, und zwar mit besonderem Schwerpunkt auf den biologischen Grundlagen. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zum Zusammenwirken von Zellkomplexen und Molekülen fließen ebenso in die Darstellung ein wie altbekanntes Wissen. Coen verzichtet so weit wie möglich auf Fachsprache; stattdessen arbeitet er mit Analogien zu Dingen, die jeder kennt: Vom Schachspiel über das Erschaffen von Kunstwerken bis hin zu den Streifen des Zebras kennt sein Fundus an Beispielen keine Grenzen.

Bei so zahlreichen Aspekten kann Coen nicht alle bis ins letzte Detail wiedergeben. Das ist auch gar nicht sein Ziel. Er versucht vielmehr, Zusammenhänge zwischen Forschungsgebieten aufzuzeigen, die bislang völlig unabhängig arbeiten, wie etwa die Evolutionsforschung und die Kulturwissenschaften, und diese Apekte dem interessierten Laien verständlich zu machen. Dies gelingt ihm auf eindrückliche Weise. Werden sich diese Zusammenhänge irgendwann als nutzbar erweisen? Wird man also zum Beispiel aus Erkenntnissen der Zellbiologie solche in der Kulturwissenschaft gewinnen können, weil in beiden Wissenschaften dieselben Prinzipien in unterschiedlicher Realisierung am Werk sind? Die Antwort auf diese Frage bleibt der Autor schuldig – und ich fürchte, sie lautet „nein“.

Der deutsche Titel „Die Formel des Lebens“ erhebt entgegen dem sachgerechteren Originaltitel „Cells to Civilizations: The Principles of Change That Shape Life“ einen Anspruch, der am Ende nicht eingelöst wird – und auch übertrieben wäre. Man muss ja einen solch universellen Zusammenhang nicht unbedingt in eine konkrete Formel packen.

  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 4/2013

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