Mehr als Physik
Das Higgs-Teilchen ist ein undankbarer Filmpartner: In der Theorie schon unanschaulich, hat es in der Praxis erst recht keine fotogenen Qualitäten. Was es aber hat, ist Glamour. Als letzter Baustein in einer der größten Theorien der Physik, dem Standardmodell, war sein Nachweis am Teilchenbeschleuniger LHC eine Sensation. Über die Fachwelt hinaus sorgte es als "Gottesteilchen" für Schlagzeilen.
Die Macher der Dokumentation "Particle Fever" (DVD € 15,99, Blu-ray € 16,99) möchten zeigen, wie die Suche nach dem Teilchen das Leben von Wissenschaftlern geprägt hat. Von 2007 bis 2012 begleiteten sie sechs Physiker zu ihren Vorträgen, ihren Seminaren, nach Hause und natürlich vor allem: Zum LHC. Aus den dabei entstandenen Szenen setzt sich die Doku zusammen. Orte und Gesichter wechseln häufig, und die dargestellten Personen erklären und erzählen den schwierigen Stoff.
Beide Filmemacher kommen vom Fach. Mark Levinson hat einen Doktor in theoretischer Physik, wechselte aber schon vor Jahren ins Filmgeschäft. David Kaplan ist theoretischer Physiker an der John Hopkins Universität in Baltimore. Er arbeitete am LHC und hatte die Idee zum Film. Folgerichtig handelt es sich bei einem der sechs porträtierten Physiker um ihn selbst.
Meister am Schnitt
Mit seiner überzeugenden Dramaturgie schafft es "Particle Fever", weder den Faden noch die Zuschauer zu verlieren. Allerdings herrschte mit Walter Murch auch ein echter Schnittmeister über das Filmmaterial, der bereits an den Produktionen "Der Pate", "Apocalypse Now" und "Der englische Patient" mitwirkte. Levinson und Kaplan gaben ihm neben professionell gedrehten Aufnahmen auch Amateurclips in die Hand, die von Forschern stammen. Herausgekommen ist eine Dokumentation, die ohne allwissenden Erzähler auskommt und die Geschichte nur anhand der Wissenschaftler selbst erfahrbar macht.
Am Anfang fällt das Zuschauen etwas schwer, weil einem die Namen und Gesichter fremd sind. Doch dann lernt man sie langsam kennen: Etwa Savas Dimopoulos, der für jede seiner Veröffentlichungen den Nobelpreis erwartet; Monica Dunford, die Physik früher nie leiden konnte; und Fabiola Gianotti, eine Projektleiterin am LHC. Mit den drei anderen Physikern haben sie eines gemeinsam: Sie lieben den Teilchenbeschleuniger und die Möglichkeiten, die sich mit ihm verbinden. Und sie berühren den Zuschauer mit ihrer kindlichen Begeisterung dafür.
Es ist die großartige Leistung des Films, Gefühle zu vermitteln und damit etwas zu liefern, das man von einem solchen Werk als letztes erwartet. Überzeugung, Begeisterung und Hingabe der Wissenschaftler werden erfahrbar. Allerdings macht der Film dafür Abstriche bei der Objektivität. Er präsentiert einzig die Perspektive der "Scientific Community", die Milliarden Euro, Unmengen an Ressourcen und Zeit in den LHC investiert hat – mit ungewissen Erfolgsaussichten. Kritik daran wird allenfalls gestreift und rhetorisch gekonnt weggewischt.
Dick aufgetragen
In seinem Überschwang gerät der Film manchmal zu pathetisch, etwa wenn er die erste Kollision der Teilchenstrahlen mit der "Ode an Freude" untermalt. Oder wenn er in gestellten Szenen die Wissenschaftler über große Fragen der Physik grübeln und dabei massenweise Formeln an Tafeln kritzeln lässt. Dennoch bleibt die Dokumentation authentisch, vor allem wohl wegen des Filmmaterials, dass die Forscher selbst aufgenommen haben und das ganz ohne Inszenierung und Schminke auskommt.
Die Formeln, die gelegentlich über den Bildschirm flirren, sind nur Dekoration, denn die Physiker nehmen bei ihren Erklärungen keinerlei Bezug auf sie. Dessen ungeachtet gelingt es Kaplan und Levinson, Modellvorstellungen wie Supersymmetrie und Multiversum zu umreißen und in einem "Wettstreit" gegeneinander antreten zu lassen, den das Higgs-Teilchen entscheiden soll. Natürlich ist das fachlich nicht ganz korrekt; beide Modelle müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Aber es erzeugt Spannung, fesselt den Laien und auch den Wissenschaftler, sofern dieser ein wenig Vereinfachung zugunsten der Anschaulichkeit aushält.
Der Film ist eine Liebeserklärung an die Physik und die Menschen, die sie betreiben. Das Versprechen, hinterher den Higgs-Mechanismus zu verstehen, gibt er seinen Zuschauern wohlweislich nicht. Denn je tiefer man in die Physik eintaucht, umso mehr Fragen schwimmen mit. Doch von eben diesen Fragen bekommt der Zuschauer eine Ahnung. Und sei es nur, weil er gespürt hat, wie viel sie sechs Menschen bedeuten.
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