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Vermenschlicht, aber prachtvoll anzusehen

Es gibt so viele Insektenarten, dass eine intensive wissenschaftliche Be­schäftigung mit ihnen allen und ihrem Verhalten das Forschungsvermögen der Zoologen überfordern würde. Der­zeit sind etwas mehr als eine Mil­lion Arten beschrieben; insgesamt sollen es – je nach Quelle – zwischen 2 und 30 Millionen sein. Die Gesamtzahl der In­dividuen ist noch eindrucksvoller: Auf jeden menschlichen Bewohner unseres Planeten kommen schätzungsweise 1,5 Milliarden Insekten! Bei solcher Vielfalt erweist sich schon die Abgrenzung zweier Arten als besonders schwierig, weil verwandte Arten ei­nander häufig zum Verwechseln ähnlich sind.

Marcel Robischon, gelernter Forst­wirt und Akademischer Rat an der Uni­versität Freiburg, verzichtet denn auch im weiteren Verlauf des Textes auf ge­naue Zahlen zu den einzelnen Gruppen und überhaupt auf die biologische Klassifizierung als Ordnungsprinzip. So bleibt mehr Raum für das übrig, was man etwas altertümlich als Naturgeschichte bezeichnet.

Statt besonders interessante Arten (zum Beispiel den Totenkopfschwär­mer) aus besonders interessanten Ordnungen (Schmetterlinge) zu betrachten, sucht Robischon nach neuen Blickwinkeln auf seine zahlreichen Beispiele. So verwendet er im Kapitel "Grüne Paläste" die Gallenbildung bei vielen nicht miteinander verwandten Pflanzen so­wie deren chemische Steuerung durch Hautflügler, Fliegen, Käfer, Schmetterlinge oder Ameisen, um dann ausführlich zu erklären, was dabei alles geschieht. Neben der allgemeinen Begeisterung für das Gebiet erkennt man seine speziellen Vorlieben für Schmetterlinge, für Gerüche und deren Biochemie, für Inseln und für Stoff-, Energie- und Informationsströme.

In den 19 Kapiteln mit jeweils einem Schwerpunkt geht es unter anderem um die Auswirkung der Isolation auf die Artbildung ("Inselgeschichten"), um das Verschwinden von Arten – manchmal ehe sie überhaupt entdeckt und beschrieben wurden ("Der stille Ar­tentod") – oder um die Verschleppung von Insekten in fremde Regionen und die damit verbundenen Gefahren ("En­tomologische Globalisierung").

Dank seiner profunden Kenntnisse in Wissenschafts- und Kulturgeschichte kann Robischon seine Texte um äußerst interessante Anekdoten bereichern. Soerinnert er an längst vergessene Forscher, die so manche "moderne" Erkenntnis schon viel früher geäußert haben. Und die Flöhe betrachtet er nicht nur biogeografisch (welcher Floh bei wem und wo) und evolutionär (Artspezifität von Wirt und Parasit), sondern schließt gleich noch eine umfangreiche Geschichte des Flohzirkus an.

Gelegentlich gewinnt man den Ein­druck, dass die Überfülle an mitteilens­werten Einzelheiten den Verfasser selbst überwältigt hat. Nur so ist es zu erklären, dass er an mehreren Stellen unvermittelt in reinen Wissenschaftsjargon verfällt. Im an sich gut gelungenen Kapitel "Piratenfeuer – kaltes Licht für heiße Liebe" (was für eine Vorankündigung!) geht es um die Biolumineszenz, also die Erzeugung von Licht durch Lebewesen. Nur mutet Robischon dem Leser die Erklärung zu, dass "der Trick in der chemischen Reaktion des Luciferins mit der energie­reichen Substanz Adenosintriphosphat (besteht), die durch das Enzym Luciferase katalysiert wird". Auch das Register lässt den Leser hier völlig ­allein. Dafür entschädigen die fantastischen Bilder der Tiere mit ihrem Leuchten in der Nacht.

Ärgerlich, weil unzulässig vermenschlichend in einem Buch mit wissenschaftlichem Anspruch, sind manche der Kapitelüberschriften und b­esonders eini­ge der Zwischentitel: "Schwarzfahrer und Brautleute" (Verbreitung durch den Wind), "Parfüm und Parasiten" (Düfte und deren biologische Bedeutungen), "Wenn der Letzte das Licht ausmacht" (Verschwinden der Glühwürmchen), "Wegelagerer und Drogendealer" (Ameisengäste). Einige stilistische Eigenarten des Verfassers sind gewöhnungsbedürftig, so seine Vorliebe für Verbanhäufungen ("es krabbelt und wuselt und wimmelt und schwirrt" gleich mehrfach) oder die Verwendung schiefer Bilder: Wer kommt schon darauf, dass mit "Hundertwasserhäusern" Pflanzengallen gemeint sind? Auch ein "hormonelles Wortgefecht" mit "rhetorischen Tricks" und "subtilen Untertönen" – hier sind es die Wechselwirkungen zwischen Pflanze und Insekt – ist nicht erhellender als die dann zu­gegebene Tatsache, dass das bis heute noch gar nicht völlig verstanden ist. Einige Rechtschreibfehler ("Gränze" statt "Grenze") und mehrere falsch orientierte Bilder (so das Präparat einer Köcherfliege mit dem Kopf nach unten) hätte ein sorgfältigeres Lektorat vermeiden können.

Bilder, darunter manche doppelseitig, gibt es genug. Die meisten passen genau zum Text und sind von guter Qualität und hoher Aussagekraft. Einige aber fallen aus dem Rahmen, fast alle davon vom Autor selbst. Er folgt dabei einer Bildsprache namens "künstlerisch abstrakte Naturfotografie", die bei Wettbewerben derzeit nahe­zu alle Preise gewinnt. In solchen Fotos ist fast alles unscharf bis auf ein winziges Detail: bei der Zartschrecke auf dem Einband ein kleines Stück des Fühlers, beim Falter auf der Rückseite ein Auge und der Fühleransatz. Nichts gegen die künstlerische Absicht; wenn aber Dinge, auf die es ankommt, in der allgemeinen Unschärfe verschwinden, dann ist es nur Platzverschwendung, wie bei der Heuschrecke, die "auf einer artenreichen Wiese im Schwarzwald" lebt, bei der man aber weder die Heuschreckenart bestimmen noch den Artenreichtum anhand wenigstens einer Blüte nachvollziehen kann. Das Buch bietet genügend hervorragende Beispiele, wie man trotz "Abstraktion" von der Umgebung geradezu abenteuerlich genaue Details der wunderbaren Tiere zeigt. Man betrachte nur den Schwarzkäfer auf dem Wüstensand und die beiden Wachtelweizenscheckenfalter, die den gelungenen Abschluss dieses Buchs bilden.

Ein sehr inhaltsschweres, informationsreiches, am Stand der Forschung orientiertes Insektenbuch mit kleinen Mängeln, die man in einer – wünschenswerten – zweiten Auflage beheben sollte.

  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 2/2012

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