Weltraummedizin: Üben für den Ernstfall
Astronauten gehören zu den gesündesten Menschen der Welt. Das rigorose Auswahlverfahren eliminiert alle Bewerber mit chronischen Krankheiten, einem ungesunden Lebenswandel oder zu geringer körperlicher Fitness. Aber niemand ist dauerhaft gesund, und eine Raumstation oder ein Raumschiff sind nicht gerade artgerechte Umgebungen für Menschen.
Eine Statistik der NASA für das Spaceshuttle-Programm listet mehr als 1800 medizinische Vorfälle für die Jahre von 1981 bis 1998 auf. 42 Prozent davon haben mit den Auswirkungen der Schwerelosigkeit zu tun, der Rest verteilt sich auf ganz verschiedene medizinische Probleme.
Das STRATUS Center für Medizinische Simulation in Boston an der Ostküste der USA hat jetzt mit Unterstützung der NASA eine Krankenstation für Raumschiffe nachgebaut. Diese bisher einmalige Einrichtung könnte künftig Astronauten für medizinische Notfälle trainieren. Die Reporterin des Technikportals »The Verge« stellt die Anlage vor und nimmt selbst an einem Training teil.
Medizinische Behandlung in der ISS
Glücklicherweise mussten Astronauten oder Kosmonauten in der Geschichte der Raumfahrt noch nicht mit einem lebensbedrohlichen medizinischen Notfall fertigwerden. In der ISS, dem zurzeit einzigen bemannten Außenposten der Menschheit, fliegt normalerweise kein Mediziner mit. Der Besatzung steht aber in der Bodenstation ständig ein Missionsarzt (flight surgeon) zur Seite, der bei Verletzung oder Krankheit Ratschläge gibt. Er fungiert auch als Hausarzt für die Astronauten. Über eine private Leitung können sie ihm ihre Gesundheitsprobleme schildern. Außerdem liegt in der ISS ein ausführliches Handbuch in Englisch und Russisch bereit, das in möglichst einfachen Worten und mit vielen Zeichnungen das Vorgehen bei Verletzungen oder lebensbedrohlichen Zuständen erklärt.
Die provisorische Krankenstation der ISS liegt im amerikanischen Destiny-Modul. Dort proben die Astronauten ab und zu die erste Hilfe bei Unfällen oder Verletzungen. Kritische Situationen sind in den bisherigen 18 Jahren Betrieb jedoch nicht aufgetreten.
Sollte ein medizinischer Notfall die Fähigkeiten der Besatzung übersteigen, müsste die stets angekoppelte Sojus-Kapsel den Kranken oder Verletzten auf die Erde zurückbringen. Dieses Manöver dauert mindestens dreieinhalb Stunden und birgt beträchtliche Risiken. Der Wiedereintritt in die Atmosphäre belastet die Astronauten mit der vier- bis fünffachen Erdbeschleunigung, und nach der Bergung braucht der Hubschrauber mindestens eine halbe Stunde bis ins nächste Krankenhaus. Sollte ein Astronaut beispielsweise einen Herzinfarkt oder eine Lungenembolie erleiden, wären seine Überlebensaussichten nicht allzu gut.
Erste Hilfe auf dem Mond und dem Mars
Das Problem wird sich verschärfen, sobald Astronauten zum Mond oder zum Mars fliegen. Die NASA plant für 2023 den Aufbau einer zeitweilig bemannten Raumstation über der Mondoberfläche, und die ESA geht seit einigen Jahren mit der Idee des Moon Village hausieren, einer permanent bemannten Siedlung auf dem Mond.
Wer dort krank wird, darf nicht auf schnelle Hilfe hoffen. Immerhin könnte man binnen zwei Tagen Medikamente oder Hilfsmittel zum Mond schaffen, vorausgesetzt, dass für solche Notfälle ständig eine Rakete in Bereitschaft gehalten wird. Mindestens genauso lange würde es dauern, den Raumfahrer zur Erde zurückzufliegen, wobei auf dem Weg allerdings keine intensive medizinische Versorgung möglich wäre. Eine Raumkapsel ist kein Krankenwagen.
Auf Reisen zum Mars wären die Astronauten endgültig auf sich allein gestellt. Die minimale Flugzeit zum Mars und zurück beträgt rund acht Monate. Die meisten Missionen, die heute diskutiert werden, dauern sogar mehr als doppelt so lange. Nach den Gesetzen der Himmelsmechanik ist es unmöglich, eine einmal begonnene Reise abzubrechen oder auch nur wesentlich zu verkürzen.
Bei einem medizinischen Notfall auf einem der Marsflüge können Ärzte von der Erde aus nur begrenzt helfen. Funksignale sind in jede Richtung zwischen 4 und 20 Minuten unterwegs. Bis sich der Arzt auf der Erde ein genaues Bild von der Situation des Patienten gemacht hat, ist es vielleicht schon zu spät. Ein medizinisches KI-System könnte Ratschläge geben, wird aber nicht direkt eingreifen. Bis Roboter gelernt haben, selbstständig Blut abzunehmen oder gar zu operieren, werden noch einige Jahrzehnte vergehen. Deshalb werden die für Langzeitmissionen vorgesehenen Astronauten lernen müssen, wie man Notfälle entschärft.
Eine gründliche Erste-Hilfe-Ausbildung am Simulator ersetzt kein Medizinstudium, aber sie nimmt den Astronauten einen Teil der lähmenden Hilflosigkeit, die Menschen beim Anblick von Kranken oder Verletzten oft befällt. Dennoch lässt sich vieles auf der Erde nicht ausreichend üben. Schon die Behandlung einer stark blutenden Wunde in der Schwerelosigkeit wird die Astronauten vor enorme Probleme stellen. Die Blutstropfen verteilen sich überall im Raum, behindern die Menschen und beschädigen Geräte. Das erschwert die Behandlung, zumal in einem Marsraumschiff eher weniger Platz sein wird als in der ISS. Wie eine größere Operation in der Schwerelosigkeit aussehen wird, weiß noch niemand genau. Der Fall ist einfach noch nie vorgekommen.
Eine gute medizinische Behandlung nach heutigem Standard benötigt deshalb erfahrenes Personal und eine gute Ausstattung. In einer kleinen Crew würde allerdings eher kein Arzt mitfliegen. Lockheed Martin plant beispielsweise, im Jahr 2028 eine Raumstation (Mars Base Camp) mit sechs Astronauten in die Marsumlaufbahn zu bringen. In einem Werbevideo spricht Lockheed von einer 1000-tägigen Mission. Vom medizinischen Standpunkt aus gesehen wäre das ein beträchtliches Risiko. In dem vorgesehenen minimalen Habitat ließe sich allenfalls eine medizinische Grundausstattung unterbringen.
Elon Musk möchte mit seinem riesigen Raumschiff Big Falcon Rocket (BFR) dagegen einige Dutzend Menschen gleichzeitig zum Mars schicken. Die Oberstufe Starship hat genug Platz für eine voll ausgestattete Krankenstation und ein ganzes medizinisches Team. Vermutlich ist das die bessere Lösung, zumal bisher kaum bekannt ist, welche Auswirkungen die starke Teilchenstrahlung im interplanetaren Raum bei längeren Reisen auf die Menschen haben wird.
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