Direkt zum Inhalt

Amyotrophe Lateralsklerose: 5 Fakten über ALS

Der prominenteste Patient feiert derzeit 75. Geburtstag: Stephen Hawking lebt seit 50 Jahren mit einer Krankheit, die keineswegs selten - und trotzdem noch kaum verstanden ist.
Mann im Rollstuhl

Was ist ALS?

Die amyotrophe Lateralsklerose ist eine Erkrankung des Nervensystems. "Innerhalb der Neurologie eine der schwersten Krankheiten überhaupt", sagt Thomas Meyer von der ALS-Ambulanz an der Charité in Berlin. Wer einmal einen Menschen mit ALS kennen gelernt habe, den lasse das so schnell nicht mehr los, meint der Forscher. Betroffen macht, mit welcher Unaufhaltsamkeit und Schwere die Symptome eintreten. Nach und nach erschlaffen alle willkürlich gesteuerten Muskeln.

Die Ursache ist ein fortschreitender Verlust von Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark, die für die Kontrolle der Muskulatur verantwortlich sind. Erhalten die Muskeln keine Impulse mehr von den Neuronen, wird Gewebe abgebaut, der Muskel wird schwächer, schwindet – er atrophiert, sagen Mediziner. Wie schnell Nerven und Muskeln abgebaut werden, ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Deshalb können keine individuellen Krankheitsprognosen gegeben werden. Die meisten leben nach der Diagnose noch drei bis fünf Jahre. Jeder zehnte Patient lebt länger als fünf Jahre, und einige wenige, wie etwa Hawking, sogar mehr als zehn Jahre.

Männer sind etwa eineinhalbmal so oft betroffen wie Frauen, bei beiden Geschlechtern macht sich die Krankheit häufig zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr bemerkbar, in jungen Jahren ist sie dagegen selten. Bei einigen Betroffenen tauchen Muskelschwund, Steifigkeit und Lähmungen zuerst in den Beinen oder Armen auf. Bei anderen beginnt es mit Problemen beim Sprechen, Kauen oder Schlucken. Bei jedem sind nach und nach alle willkürlich gesteuerten Muskeln betroffen. "Die Patienten sind nicht mehr in der Lage, über Sprache, Gestik oder Mimik mit ihrer Umgebung zu kommunizieren", sagt Albert Ludolph vom Universitätsklinikum Ulm. Im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf ist auch die Atemmuskulatur geschwächt, ein Tod durch Atemversagen kann eintreten.

Anders als früher oft angenommen, ist die Störung nicht auf das motorische System im Gehirn beschränkt: "Bei Patienten ist beispielsweise auch die Funktion des Stirnhirns und der Substantia nigra betroffen", sagt Ludolph. Die Veränderungen können sich so auch auf das Gedächtnis oder die Persönlichkeit auswirken, die Störung in der Substantia nigra erinnert an die Parkinsonkrankheit.

Und die ALS ist nicht selten. Pro 100 000 Einwohner erkranken in unseren Breitengraden laut Ludolph jedes Jahr drei Menschen. Die bedeutet, dass jeder 400. Bürger der Bundesrepublik Deutschland an ALS verstirbt.

Was löst ALS aus?

Wie ALS entsteht, ist auch rund 150 Jahre nach ihrer ersten Beschreibung durch den französischen Neurologen Jean-Martin Charcot (1825-1893) erst im Ansatz verstanden. Sicher ist: Den einen Auslöser gibt es nicht. Etwa zehn Prozent aller ALS-Fälle treten familiär gehäuft auf. Bei dieser vererbten Variante findet man bei etwa jedem fünften Erkrankten im Gen für die Superoxiddismutase (SOD1) eine Mutation. Dieses Enzym entschärft aggressive Sauerstoffmoleküle in den Körperzellen. Ist das Gen für die SOD1 von einer Mutation betroffen, können sich die Funktion und die Struktur des Enzyms verändern. Möglicherweise wird als eine Folge mehr reaktives Superoxid frei, was besonders den empfindlichen Nervenzellen zu schaffen macht.

Stephen Hawking – prominentester ALS-Fall | Der Astrophysiker hat schon vor Jahrzehnten die Fähigkeit zum Sprechen verloren. Seitdem kommuniziert er mit Hilfe eines Computers, den er durch Bewegungen eines Wangenmuskels steuert.

Außerdem lagert sich in den Zellen verändertes, fehlgefaltetes SOD1 zusammen. Proteinverklumpungen entstehen, die Nervenzellen gehen an diesem Abfall zu Grunde. Inzwischen kennt man noch einige andere fehlgefaltete Zellproteine, die den Neuronen bei ALS das Leben schwer machen können. Zum Beispiel das TDP-43, das im Zellkern an DNA- oder RNA-Moleküle bindet und die Transkription reguliert.

90 Prozent der ALS-Fälle sind jedoch nicht erblich bedingt, sondern gehören zur sporadischen Variante. Als Auslöser wird eine Kombination von Risikogenen und äußeren Umweltfaktoren angenommen. "ALS ist eher die Bezeichnung für eine ganze Gruppe von Erkrankungen mit unterschiedlichen Verläufen, Entstehungsprozessen und Ursachen", sagt Thomas Meyer von der Charité. Genetische Faktoren interagierten, ähnlich wie bei einer Krebserkrankung, mit einer Vielzahl von Umweltfaktoren, erklärt der Neurologe. "Eine bestimmte Mutation kann zum Beispiel bei Menschen, die in Deutschland leben, ALS auslösen; die gleiche Mutation in Schweden aber nicht", sagt Meyer.

Was am Ende wirklich die Motoneurone zu Grunde gehen lässt, ist ungewiss. Auch immunologische Faktoren – etwa einzelne Entzündungsbotenstoffe – könnten eine Rolle spielen. Andere sehen den Auslöser in einem Überschuss an Glutamat, dem wichtigsten erregenden Neurotransmitter im Gehirn, der dadurch eine toxische Wirkung entwickelt.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

ALS ist bisher unheilbar, aber, wie es auf den Seiten der Berliner ALS-Ambulanz heißt, "dennoch eine behandelbare Krankheit". Die Behandlung der Patienten ist im Idealfall interdisziplinär und umfasst meist vier Hauptpfeiler. Das bislang einzige ALS-Medikament, Riluzol (1996 zugelassen), kann das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen. Riluzol schützt die Nervenzellen, indem es die Wirkung des Neurotransmitters Glutamat hemmt. Forscher gehen davon aus, dass dies den Energiestoffwechsel der erkrankten Zellen schont.

Ein zweiter wichtiger Pfeiler der Behandlung ist die Versorgung mit hochkalorischen Nahrungsmitteln, was Lebenszeit und -qualität deutlich verbessert. In fortgeschrittenen Krankheitsstadien ist es wichtig, dass Patienten über eine Maske ausreichend Atemluft zugeführt bekommen. Um ein Optimum an Mobilität und Kommunikation zu ermöglichen, sollten die Patienten zudem rechtzeitig mit für sie geeigneten Gerätschaften und Hilfsmitteln ausgerüstet werden.

Da Wissenschaftler immer besser verstehen, welche molekularen Prozesse hinter der Krankheit stecken und welche Genvarianten zu ihrer Entstehung beitragen, wächst die Hoffnung auf bessere Therapiemöglichkeiten in der Zukunft. Eine Idee ist es beispielsweise, mit Hilfe maßgeschneiderter Wirkstoffe, so genannter Antisense-Oligonukleotide, die Zellen daran zu hindern, problematische Proteine herzustellen. Die gefährliche, weil mutierte Superoxiddismutase würde so gar nicht erst in die Zellen gelangen.

"Wenn wir besser verstehen, wo genau die Krankheit im Körper beginnt und wie sie sich im Gehirn ausbreitet, könnten wir dort therapeutisch ansetzen und den Neuronenverlust womöglich aufhalten", sagt der Neurologe Ludolph.

Warum hat Stephen Hawking die Krankheit so lange überlebt?

Stephen Hawking erhielt die Diagnose ALS im Alter von 21 Jahren. Er leidet an der so genannten juvenilen ALS, bei der man wiederum zwei verschiedene Typen unterscheidet. Es gibt eine akute, sehr aggressive Variante, der die Betroffenen in der Regel innerhalb eines Jahres erliegen. Hawking hat die chronische Form, bei der der Verlauf deutlich günstiger ist und Überlebenszeiten von 10 bis 20 Jahren nicht selten sind. So gesehen sei es nicht ungewöhnlich, dass Stephen Hawking so lange überlebt hat, sagt Thomas Meyer. "Überlebt hat", denn im natürlichen Verlauf der Krankheit wäre auch Hawking eigentlich 1985 gestorben. "Hawking wird seither künstlich beatmet, er lebt mit einer Organersatztherapie und ist eigentlich 'beyond natural history', wie der Brite sagen würde", erklärt Meyer.

Bei einem Patienten mit einem Kunstherz würde man sich auch nicht mehr darüber wundern, warum dieser mit seiner schweren Herzerkrankung so lange überlebt hätte, meint Meyer. Hawking hat sich für einen Luftröhrenschnitt, für ein Tracheostoma entschieden, was lange nicht alle ALS-Patienten tun. "Ein Großteil der Patienten sagt Nein zu lebensverlängernden Maßnahmen", erklärt Meyer. "Ein Tracheostoma ist im Prinzip bei jedem Patienten möglich, doch nicht die technische Machbarkeit ist hier entscheidend, sondern die soziale Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme."

Für den Großteil der Betroffenen sei der Verlust der motorischen Funktionen so belastend, dass sie ein virtuelles "Second Life", wie Hawking es führe, nicht wollten. Hawking nutzt seit vielen Jahren elektrische Kommunikationssysteme. "Konzentriere dich auf die Dinge, die du trotz deiner Behinderung gut tun kannst", sagte Hawking in einem Interview der "New York Times". Die Möglichkeit zur Teilhabe und Kommunikation sind wesentliche Überlebensfaktoren. Der Wunsch nach künstlicher Beatmung sei in den letzten Jahren von ehemals 5 auf 15 Prozent gestiegen, sagt Meyer. Er macht dafür die zunehmende Verfügbarkeit des Internets verantwortlich: "Die Virtualisierung unserer Welt scheint ein wichtiger Faktor für den Lebenswillen von Menschen mit ALS zu sein."

Gibt es Möglichkeiten der Früherkennung?

Mediziner diagnostizieren ALS derzeit mit Hilfe neurologischer Untersuchungen, wie zum Beispiel der Elektromyografie, mit der sie den Abbau der Motoneurone feststellen können. Das Problem: Wenn sich die ersten klinischen Symptome bemerkbar machen, sind bereits 30 bis 50 Prozent der Motoneurone beeinträchtigt oder abgestorben.

"Wir vermuten, dass die ALS ähnlich wie Morbus Parkinson nicht allein im Gehirn, sondern im Gesamtorganismus beginnt", sagt Ludolph. Von großer Bedeutung wäre es darum, wenn es gelänge, einen Biomarker zu identifizieren, der schon viel früher Hinweise auf die Erkrankung liefern würde – am besten bevor überhaupt Symptome auftreten. Denn zu diesem Zeitpunkt könnte man den Betroffenen möglicherweise effektiver mit Medikamenten helfen als heutzutage. Zumindest im Prinzip, denn entsprechende Medikamente gibt es derzeit noch nicht. Auch bei der Suche nach Biomarkern zur Früherkennung sind Forscher noch nicht fündig geworden. Derzeit existieren lediglich Kandidaten, wie zum Beispiel bestimmte Blutmonozyten oder miRNA-Moleküle, die sich im Blut der Betroffenen aufspüren lassen könnten.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.