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Der Mathematische Monatskalender: Jacques Hadamard (1865–1963): Mathematiker und Pazifist

Sowohl Charles de la Vallée Poussin als auch Jacques Hadamard, die unabhängig voneinander den Primzahlsatz bewiesen, wurden über 95 Jahre alt.
Hadamard

»Mathematiker, die sich intensiv mit Primzahlen beschäfti­gen, leben lange …« Diesem eher scherzhaft gemeinten Spruch könnte man zustimmen, wenn man bedenkt, welches Lebensalter Charles de la Vallée Poussin und Jacques Salomon Hadamard erreichten – der Erstgenannte wurde 95 Jahre alt, der Zweite sogar 97 Jahre. Diese beiden Mathematiker verbindet eine besondere Leistung: Unab­hängig voneinander bewiesen sie 1896 den so genannten Primzahl­satz. Dieser besagt, dass der Quotient \(\frac{\pi(x)}{x/\text{ln}(x)} \) gegen eins kon­vergiert, wobei \(\pi(x)\) die Anzahl der Primzahlen bezeichnet, die höchstens gleich \(x\) sind.

Jacques Salomon Hadamard ist das erste Kind von Amédée Hadamard und Claire Marie Jeanne Picard. Der Vater unterrichtet Geschichte, Grammatik und klassische Literatur am Lycée Imperial in Versailles; die Mutter erteilt zu Hause private Klavier­stunden. 1869 zieht die junge Familie nach Paris, wo Amédée Hadamard eine Stelle am Lycée Charlemagne übernimmt – nur wenige Monate vor dem Ausbruch des preußisch-französischen Kriegs. Als die preußischen Truppen dabei sind, den Belagerungsring um Paris zu schließen, stirbt das gerade geborene zweite Kind der Hadamards (eine Tochter); in der Hauptstadt bricht eine große Hungersnot aus. Nach dem Waffen­stillstand im Januar 1871 folgt im Mai ein für Frankreich demütigender Friedens­vertrag. In Paris kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, bei denen auch das Haus der Familie Hadamard zerstört wird. Auch eine zweite Tochter stirbt; sie wird nicht einmal drei Jahre alt.

Von 1874 an besucht Jacques das Lycée, an dem sein Vater als Lehrer tätig ist, mit hervorragenden Leistungen – außer in Arithmetik. 1875 wird Amédée Hadamard an das Lycée Louis-le-Grand versetzt. Auch Jacques wechselt an diese Schule; 1882 schließt er die Schulzeit mit dem »Baccalauréat des Sciences« ab. Beim landesweiten Schülerwettbewerb des Jahres 1883 (»Concours Général«) erringt Jacques sowohl den ersten Preis in Algebra als auch in Mechanik.

1884 absolviert Jacques Hadamard die Aufnahmeprüfungen an den beiden Pariser Elite-Hochschulen, der École Poly­technique und der École Normale Supérieure, jeweils als Bester. Er entscheidet sich für ein Mathematikstudium an der zweiten Einrichtung, wo er Vorlesungen unter anderem bei Charles Hermite und Émile Picard hört; 1888 beendet er sein Studium. Während der Recher­chen für seine Doktorarbeit unterrichtet er an verschiedenen Schulen, allerdings mit nicht allzu großem Erfolg: Er hat Schwierigkeiten, sich auf das Verständnisvermögen seiner Schüler einzustellen. Eine Ausnahme bildet Maurice René Fréchet, den er als Schüler und später als Student bis hin zur Promotion fördern kann.

Das Jahr 1892 wird für Hadamard ein besonderes Jahr: Er wird mit einer Arbeit über komplexe Taylor-Reihen promoviert (bei Picard) und erhält überraschender­weise den Grand Prix des Sciences Mathématiques für seine Untersuchungen zum Primzahlsatz. Eigentlich war der Mathematiker Thomas Jean Stieltjes für den Preis vorgesehen, hatte dieser doch verkündet, dass er einen Beweis für die riemannschen Vermutung gefunden habe, aber es gab Beweislücken. 1892 ist auch das Jahr, in dem Hadamard seine Jugendliebe Louise-Anna Trénel heiratet. Die beiden ziehen nach Bordeaux, wo Hadamard einen Lehrauftrag an der Universität erhält. In den folgenden vier Jahren verfasst er 29 Beiträge, darunter den berühm­ten Beweis des Primzahlsatzes sowie eine Abhandlung über Trajektorien (Bahn­kurven), für den er den »Bordin-Preis« der Académie des Sciences erhält. 1896 wird seine Stelle in Bordeaux in eine Professur für Astronomie und Mechanik umgewandelt.

In die Zeit in Bordeaux fällt auch ein Ereignis, das Hadamards Leben stark beein­flusst: Alfred Dreyfus, der mit einer Cousine Hadamards verheiratet ist, wird 1894 wegen angeblichen Verrats von militärischen Geheimnissen an das Deutsche Reich angeklagt. Dreyfus ist der erste Offizier jüdischen Glaubens in der französischen Armee, was von vornherein das Misstrauen der meisten Mitglieder der Generalität hervorgerufen hat, und er stammt aus dem Elsass, das 1871 vom Deutschen Reich annektiert worden war. Auf diesem Hintergrund genügen dem nicht öffentlich tagen­den Kriegsgericht wertlose Gutachten und angebliche Zeugenaussagen, Dreyfus zu lebenslanger Haft zu verurteilen. Die Art und Weise, wie der unschuldig Verurteilte vor einer johlenden Zuschauermenge degradiert wird, sowie die Haftbedingungen auf der Teufelsinsel vor Französisch-Guyana führen zu ersten Reaktionen in der Presse, die das gesamte Verfahren in Frage stellen. Die Familie, auch Hadamard, setzt sich mit allen ihren Möglichkeiten für die Wiederaufnahme des Verfahrens ein – zunächst vergeblich. Als dann der tatsächliche Verräter in einem Prozess freigesprochen wird, weil das Militär den zuvor begangenen Fehler nicht zugeben will, fordert der Dichter Émile Zola in einem öffentlichen Appell (»J’accuse …«) den Staatspräsidenten auf, ein­zugreifen. Zola wird wegen Verleumdung des Militärs verurteilt und muss sich außer Landes begeben, um einer Bestrafung zu entgehen; letztlich kommt aber durch seinen Appell die Angelegenheit wieder in Bewegung. Und trotz aller antisemitischen Propa­ganda in Presse und Parlament wird 1899 die Revision des Verfahrens zugelassen. In dem neuen Prozess wird Dreyfus zwar erneut für schuldig befunden, aber unmittelbar danach begnadigt. Erst 1906 wird Alfred Dreyfus endlich voll rehabilitiert, nachdem die Linken in einer Parlamentswahl die Mehrheit errungen haben.

Trotz des Engagements in der Dreyfus-Affäre kann Jacques Hadamard seine beruf­liche Karriere fortsetzen: 1897 wechselt er von Bordeaux nach Paris (Sorbonne, Collège de France) und veröffentlicht nacheinander zwei Bände zur Geometrie in der Ebene und im Raum, die großen Einfluss auf den Mathematikunterricht in Frankreich haben. 1898 wird ihm der Prix Poncelet wegen seiner wissenschaftlichen Verdienste während der zurückliegenden zehn Jahre zugesprochen. Die Mitglieder der »Société mathématique de France« wählen ihn 1906 zum Präsidenten der Vereinigung. 1909 er­hält er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Mechanik am Collège de France. 1912 wird er zum Professor für Analysis an der École Polytechnique ernannt.

Als im selben Jahr Henri Poincaré stirbt, wird Hadamard die schwie­rige Aufgabe übertragen, dessen Nachlass zu sichten – er scheint der Einzige zu sein, der dazu in der Lage ist. Die Académie des Sciences wählt Hadamard in der Nachfolge Poincarés zum Mitglied.

Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs endet Hadamards glückliches Familienleben: Die beiden älteren Söhne kommen in der Schlacht um Verdun ums Leben. Seinen Kummer verdrängt er mit noch intensiverer Arbeit; er übernimmt zusätzlich einen Lehrstuhl an der École Centrale. Vortragsreisen führen ihn in verschiedene europäische und amerikanische Länder; dabei werden ihm zahl­reiche Ehrungen zuteil. Und er verfasst unentwegt Bücher und wissenschaftliche Artikel – insgesamt sind es 300 Beiträge zu verschiedenen Gebieten der Mathematik und der theoretischen Physik. Die von ihm untersuchten so genannten Hadamard-Matrizen der Form \( H_{2n}= \begin{pmatrix} H_n & H_n \\ H_n & H_{-n} \end{pmatrix}\) mit \(H_1 = 1 \) spielen bei fehlerkorrigierenden Codes eine besondere Rolle.

1940 flieht er mit seiner Frau vor den heran­rückenden deutschen Truppen in die USA; außer einer Gastprofessur an der Yale University gelingt es ihm jedoch nicht, eine weitere Stelle zu finden. Daher arbeitet er an einem Werk, das 1945 in Princeton erscheint: »An Essay on the Psychology of Invention in the Mathematical Field«, in dem er den mathematischen Denkprozess untersucht. Er kommt dabei zu ähnlichen Ergebnissen wie Poincaré im Jahr 1906: bewusstes Nachdenken, unbewusstes Denken (Inkubation), spontane Erleuchtung und Überprüfung des Gedankens.

1944 ereilt ihn die nächste Todesnachricht: Auch sein dritter Sohn ist als Soldat der französischen Armee in Libyen gefallen. In England wartet er, bis er wieder nach Paris zurückkehren kann. Nach dem Krieg engagiert sich Hadamard bei den Anti­kriegsdemonstrationen der Linksparteien, was beinahe seine Einreise zu einem Mathe­matikerkongress in Cambridge (Massachusetts) verhindert; den Behörden zum Trotz wählen ihn die Tagungsteilnehmer zum Ehrenpräsidenten.

1962 erhält der immer noch geistig aktive Wissenschaftler als besondere Ehrung eine Goldmedaille – in Erinnerung an die Auf­nahme in die Académie des Sciences 50 Jahre zuvor. Als im selben Jahr einer seiner Enkel bei einer Bergtour tödlich verun­glückt, verliert er jedoch seinen Lebenswillen und zieht sich völlig zurück – so als würde er nur noch auf seinen Tod warten.

Jacques Hadamard (1865–1963)

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