Algebraische Geometrie: Peter Scholze - der mathematische Hellseher
Im Jahr 2010 ging ein Gerücht um unter den Zahlentheoretikern. Angeblich hatte ein Student aus Bonn eine Arbeit geschrieben, die auf nur 37 Seiten erledigte, wofür die beiden etablierten Wissenschaftler Michael Harris und Richard Taylor ein Buch von immerhin 288 Seiten gebraucht hatten: den bis zur Undurchdringlichkeit verwickelten Beweis eines Satzes aus der Zahlentheorie, der wiederum von einem Spezialfall der berühmten Langlands-Korrespondenz handelt. Tatsächlich – der 22-jährige Peter Scholze hatte in seiner Masterarbeit einen der kompliziertesten Teile des Beweises durch eine elegante Eigenkonstruktion ersetzt.
Die Fachwelt brach in großes Erstaunen aus. »Es war einfach unglaublich, dass jemand in so jungem Alter etwas so Revolutionäres zu Stande bringt«, sagt Jared Weinstein, Zahlentheoretiker an der Boston University und mit seinen 36 Jahren nicht gerade zum alten Eisen gehörend. »Das lehrt einen Bescheidenheit!«
Den Mathematikern in Bonn war Scholzes Ausnahmetalent nicht entgangen. Nur zwei Jahre später ernannten sie ihn zum W3-Professor; damals war er der jüngste Inhaber dieses Titels überhaupt.
Mittlerweile hat Scholze es zu großem Ruhm gebracht. Die Verleiher des SASTRA Ramanujan Prize hielten ihn bereits 2013 für »einen der einflussreichsten Mathematiker der Welt«, und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die ihm 2016 den Leibniz-Preis zuerkannte, würdigte ihn als ein »Ausnahmetalent, wie es sie lediglich alle paar Jahrzehnte gibt«. Seit Juli dieses Jahres ist er – neben Koryphäen wie Gerd Faltings und Don Zagier – Direktor des Max-Planck-Instituts für Mathematik in Bonn. Und auf dem jüngsten Internationalen Mathematikerkongress in Rio de Janeiro wurde seine Leistung mit der Fields-Medaille gewürdigt, einer Auszeichnung, die in ihrem Prestige dem Nobelpreis gleichkommt.
Sein bislang bedeutendstes Konzept ist eine Klasse fraktaler Strukturen, die er perfektoide Räume genannt hat. Die Idee ist erst ein paar Jahre alt, hat aber bereits reiche Früchte in der algebraischen Geometrie getragen – jenem von Alexander Grothendieck ins Leben gerufenen Gebiet, in dem sich Zahlentheorie und Geometrie treffen. Jared Weinstein geht sogar so weit, seinem jungen Fachkollegen Hellseherqualitäten zu bescheinigen: »Er kann die Entwicklungen sehen, bevor sie überhaupt angefangen haben.«
Den Stoff der Anfängervorlesung? Hat er nie richtig studiert
Viele Mathematiker treten Scholze »mit einer Mischung aus Bewunderung, Ängstlichkeit und Freude« entgegen, sagt Bhargav Bhatt von der University of Michigan, der mehrere Arbeiten gemeinsam mit ihm verfasst hat. Das liegt nicht an seiner Persönlichkeit, die seine Kollegen übereinstimmend als zugleich bodenständig und großzügig beschreiben. »Er lässt dich nie spüren, dass er dir haushoch überlegen ist«, formuliert sein Kollege Eugen Hellmann. Vielmehr liegt es an seiner phänomenalen Fähigkeit, tief in das Wesen eines mathematischen Gegenstands zu blicken. Anders als viele seiner Fachkollegen nimmt er sich nicht die Lösung eines speziellen Problems vor, sondern ein rätselhaftes Konzept, das er um seiner selbst willen verstehen möchte. Aber hinterher »finden die Strukturen, die er sich ausgedacht hat, Millionen von Anwendungen, die vorher niemand erahnen konnte, eben weil es genau die richtigen Konzepte waren«, so Ana Caraiani, Zahlentheoretikerin am Imperial College London, die ebenfalls mit ihm zusammengearbeitet hat.
Mit 14 Jahren begann Peter Scholze, sich die Mathematik auf Universitätsniveau selbst anzueignen. Hilfreich war, dass er damals auf das Heinrich-Hertz-Gymnasium in Berlin ging, eine Schule mit Schwerpunkt in Mathematik und Naturwissenschaften, die aus einer Spezialschule der DDR hervorgegangen ist. An dieser Schule »war man kein Außenseiter, wenn man sich für Mathematik begeisterte«, erzählt Scholze. Noch als Schüler gewann er einmal eine Silber- und dreimal eine Goldmedaille bei der internationalen Mathematik-Olympiade.
Mit 16 erfuhr er, dass zehn Jahre zuvor Andrew Wiles das berühmte fermatsche Problem aus dem 17. Jahrhundert gelöst hatte: Beweise, dass die Gleichung xn + yn = zn keine Lösung in natürlichen Zahlen hat, wenn der Exponent n größer als 2 ist. Scholze wollte den Beweis verstehen, musste aber bald feststellen, dass zwar die Aufgabe einfach zu formulieren ist, aber die Lösung allerlei von der härtesten aktuellen Mathematik erfordert. »Ich begriff erst mal gar nichts, aber es war faszinierend.«
Daraufhin arbeitete sich der Schüler von hinten nach vorne durch das Material: Jedes Mal, wenn er etwas nicht verstand, eignete er sich den dazu erforderlichen Stoff an, dann das, was man brauchte, um diese Inhalte zu verstehen, und so weiter. »Ungefähr so lerne ich heute noch«, erklärt er im Gespräch. »Was man in der Anfängervorlesung macht, wie lineare Algebra, habe ich nie richtig studiert – das ist bei anderen Gelegenheiten nebenher mitgekommen.«
Mehr als das ursprüngliche Problem reizte ihn das, was ihm auf dem langen, mühsamen Weg durch den Beweis begegnete: Strukturen wie Modulformen und elliptische Kurven, die auf geheimnisvolle Weise weit entfernte Gebiete wie Zahlentheorie, Algebra, Geometrie und Analysis miteinander verbinden. Allmählich kristallisierten sich seine speziellen Vorlieben heraus. Noch heute begeistert er sich für Probleme, die aus einfachen Gleichungen für ganze Zahlen (»diophantischen Gleichungen«) erwachsen. Diese vergleichsweise handgreiflichen Ursprünge lassen die esoterischsten mathematischen Strukturen für ihn irgendwie konkret erscheinen. »Am Ende interessiert mich die Arithmetik«, sagt er. Und am schönsten finde er es, wenn er von seinen abstrakten Konstruktionen zu kleinen Entdeckungen über gewöhnliche ganze Zahlen kommt.
Nach der Schule begann er in Bonn zu studieren – und hat nie etwas mitgeschrieben, wie sich sein damaliger Kommilitone Eugen Hellmann erinnert: »Er hat das auf der Stelle verstanden, und nicht bloß irgendwie, sondern so tief durchdrungen, dass er es nie wieder vergaß.«
Scholze begann seine Forschungen in der algebraischen Geometrie, jener Fachrichtung, die mit geometrischen Mitteln Aussagen über ganzzahlige Lösungen von Polynomgleichungen sucht. Das sind Gleichungen wie x y2 + 3y = 5, in denen die Unbekannten wie x und y nur mit sich selbst – auch mehrfach –, miteinander und mit ganzen Zahlen multipliziert und diese Produkte addiert werden. Prominentes Beispiel ist Fermats Gleichung xn + yn = zn.
Manchmal ist es nützlich, die Beteiligten einer solchen Gleichung nicht als gewöhnliche reelle Zahlen zu interpretieren, sondern als so genannte p-adische Zahlen (siehe Kasten »Die bizarre Welt der p-adischen Zahlen« am Ende des Beitrags). Sie entstehen dadurch, dass man die Lücken zwischen den rationalen Zahlen auf sehr ungewohnte Weise füllt. Die rationalen Zahlen (»Brüche«), das heißt Quotienten ganzer Zahlen, liegen zwar »unendlich dicht« beieinander; gleichwohl gibt es zwischen ihnen Lücken, wie man zum Beispiel bei dem Versuch entdeckt, die Wurzel aus 2 zu berechnen. Man findet beliebig gute rationale Näherungen, insbesondere wird der Abstand zwischen verschiedenen Näherungen kleiner als jede positive Zahl, aber die Zahl √2 selbst ist nicht rational. Um derartige Lücken zu stopfen, führt man die irrationalen Zahlen ein.
Fasst man dagegen die natürlichen Zahlen als p-adische Zahlen (zu einer festgelegten Basis p, die eine Primzahl sein muss) auf, so gilt eine andere Definition von Abstand: Als nahe beieinander gelten zwei Zahlen nicht, wenn der Betrag ihrer Differenz klein ist, sondern wenn diese Differenz durch eine große Potenz von p teilbar ist – ein seltsames Kriterium mit noch seltsameren Folgen. So gerät man beim Lückenstopfen an Zahlen, die unendlich viele Stellen vor dem Komma haben. Aber es ist ein nützliches Kriterium. So sind Gleichungen wie x2 = 3y2, in denen es entscheidend auf den Faktor 3 ankommt, in den 3-adischen Zahlen (das heißt in den p-adischen Zahlen für p = 3) viel leichter zu analysieren.
Perfektoide Räume: Unendliche Türme aus immer größeren Zahlensystemen
Die p-adischen Zahlen bilden einen Körper, das heißt, zu jedem Element gibt es ein Negatives und einen Kehrwert; allerdings hat eine Zahl wie -1 unendlich viele Stellen vor dem Komma. »p-adische Zahlen sind weit weg von unserer gewohnten Vorstellungswelt«, sagt Scholze. Aber über die Jahre ist er sehr vertraut mit ihnen geworden. »Inzwischen bin ich sie so gewohnt, dass mir die reellen Zahlen komisch vorkommen.«
In den 1970er Jahren hatten die Mathematiker bemerkt, dass den p-adischen Zahlen leichter beizukommen ist, wenn man nicht nur sie selbst studiert, sondern auf ihnen einen unendlichen Turm von Zahlensystemen aufbaut: zuunterst die p-adischen Zahlen selbst, darüber ein System aus p im Kreis angeordneten Exemplaren der p-adischen Zahlen, und so weiter: Jedes Stockwerk ist in einem gewissen Sinn eine p-fache Version des unmittelbar unter ihm liegenden.
Der ganze Turm ist das einfachste Exemplar der Klasse, mit deren Einführung Scholze großes Aufsehen erregte: perfektoide Räume. Ein perfektoider Raum ist in seiner Kompliziertheit schwerlich zu überschätzen. Viele mathematische Strukturen lassen sich als differenzierbare Mannigfaltigkeiten auffassen; das heißt, wenn man die Umgebung eines Punktes in immer stärkerer Vergrößerung betrachtet, sieht die Struktur immer glatter aus. Ein perfektoider Raum dagegen bleibt unter beliebig starker Vergrößerung verknittert, eine Eigenschaft, die typisch für Fraktale ist.
Es ist nicht unbedingt einleuchtend, dass eine Struktur (in diesem Fall der Körper der p-adischen Zahlen) einfacher zu verstehen ist, indem man etwas äußerst Kompliziertes (einen perfektoiden Raum) daraufsetzt. Aber dort hat die Mathematik Peter Scholze gewissermaßen hingeführt. »Ich wollte den Kern dieses Phänomens verstehen«, sagt er. »Es gab keinen allgemeinen Formalismus, der das hätte erklären können.«
Schließlich gelang es ihm, perfektoide Räume für eine große Vielfalt mathematischer Strukturen zu konstruieren. Mit ihrer Hilfe kann man Fragen über Polynome aus der Welt der p-adischen Zahlen in ein anderes mathematisches Universum transportieren, in dem die Arithmetik viel einfacher ist, die »formalen Laurent-Reihen über dem endlichen Körper modulo p«. Zum Beispiel funktioniert die Addition ohne den Übertrag auf die nächsthöhere Stelle. »Das Verrückteste an den perfektoiden Räumen ist, dass man mit ihnen auf wundersame Weise von einem Zahlensystem zum anderen wechseln kann«, sagt Weinstein.
Mit Hilfe dieser Einsicht konnte Scholze eine komplizierte Aussage über Lösungen von Polynomgleichungen in den p-adischen Zahlen zum Teil beweisen. Es handelt sich um die 1970 von Pierre Deligne formulierte »weight-monodromy conjecture«. Mit diesem Beweis promovierte er 2012 – und seine Dissertation »hatte so weitreichende Folgen, dass Arbeitsgruppen auf der ganzen Welt sich in sie vertieften«, so Weinstein. Hellmann drückt es so aus: »Scholze hat die klarste Form gefunden, in der man alle bisherigen Ergebnisse ausdrücken konnte, und das auf elegante Weise – und weil das genau die richtige Begriffsbildung war, konnte er weit über das bisher Bekannte hinausgehen.«
Flug über den Dschungel
Perfektoide Räume sind zweifellos etwas vom Schwierigsten überhaupt in der Mathematik; gleichwohl ist Scholze bekannt für die Klarheit seiner Darstellungen, in Artikeln wie in Vorträgen. Weinstein gesteht: »Ich verstehe gar nichts, bis Peter es mir erklärt.« Und Caraiani fügt hinzu, dass Scholze sich nicht zu schade ist, seine Ideen auf Vordiplomsniveau zu erläutern. Dank seiner freundlichen, zugänglichen Art sei er die ideale Führungsfigur auf seinem Gebiet.
Aber selbst mit einer Einführung durch Scholze sind perfektoide Räume alles andere als einfach zu verstehen. »Wenn du auch nur ein bisschen von dem Weg abweichst, den er vorgibt, landest du im finstersten Dschungel, und dann wird's richtig schwierig«, sagt Hellmann. »Aber Peter steckt niemals im Dschungel fest. Er versucht sich gar nicht erst durchzuschlagen. Er fliegt drüber!«
Scholze arbeitet nämlich, ohne irgendetwas aufzuschreiben – wie im Studium. Also muss er seine Gedanken in klinisch reiner Form ausdrücken, oder in seinen eigenen Worten: »Du hast nur eine begrenzte Kapazität in deinem Kopf; da ist kein Platz für zu komplizierte Dinge.«
Während sich die Fachkollegen auf der ganzen Welt mit den perfektoiden Räumen herumschlagen, stammen die weit reichendsten Entdeckungen auf diesem Gebiet, wenig erstaunlich, von Scholze selbst und seinen Arbeitskollegen. Ein Ergebnis, das er 2013 ins Internet stellte, erregte ungläubiges Erstaunen bei der Fachwelt. »Wir hätten nie gedacht, dass ein derartiger Satz überhaupt in Reichweite war«, sagt Weinstein.
In dieser Arbeit gelang es Scholze, die so genannten Reziprozitätssätze zu verallgemeinern. Dabei geht es um Polynomgleichungen in modularer Arithmetik. Man rechnet »modulo einer Zahl p«, das heißt, man betrachtet an Stelle der gewöhnlichen Ergebnisse deren Reste bei der Division durch p; üblicherweise ist p eine Primzahl. Aus dem Alltag geläufig ist die Arithmetik modulo 12; so pflegt man mit Uhrzeiten zu rechnen. Zum Beispiel ist 1 Uhr die Zeit, die 5 Stunden nach 8 Uhr liegt, denn 8 + 5 = 1 modulo 12. Die Zahlen modulo einer Primzahl p bilden die gebräuchlichsten und bestuntersuchten endlichen Körper.
Der Urahn aller Reziprozitätssätze ist einer von Scholzes Favoriten: das quadratische Reziprozitätsgesetz, das der 24-jährige Carl Friedrich Gauß 1801 bewies. Sind zwei verschiedene ungerade Primzahlen p und q gegeben, die nicht beide bei Division durch 4 den Rest 3 lassen, dann ist p ein Quadrat – das heißt eine Quadratzahl – modulo q genau dann, wenn q ein Quadrat modulo p ist. Beispiel: 5 ist ein Quadrat modulo 11, denn 42 = 16 = 5 modulo 11, und 11 ist ein Quadrat modulo 5, denn 12 = 1 = 11 modulo 5.
Dieser Satz ist zwar mit elementaren Mitteln beweisbar, aber dennoch irgendwie erstaunlich. »Auf den ersten Blick haben die beiden Aussagen nichts miteinander zu tun«, so Scholze. Und nach Jared Weinstein »kann man größere Teile der modernen algebraischen Zahlentheorie als den Versuch auffassen, dieses Gesetz zu verallgemeinern«.
Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckten die Mathematiker eine Beziehung der Reziprozitätssätze zu einem – anscheinend – völlig anderen Thema: der hyperbolischen Geometrie. Das ist die Geometrie, in der es zu einer Geraden durch einen Punkt außerhalb dieser Geraden nicht nur genau eine Parallele gibt, sondern unendlich viele, in der die Winkelsumme im Dreieck stets kleiner ist als 180 Grad und bei der die ganze unendliche hyperbolische Ebene winkeltreu ins Innere einer Kreisscheibe abgebildet werden kann – eine Tatsache, die den berühmten »Kreislimit«-Bildern von Maurits C. Escher zu Grunde liegt.
Ein kleiner Ausflug zur algebraischen Topologie versetzt die Fachwelt in Aufregung
Die Verbindung zwischen den Reziprozitätssätzen und der hyperbolischen Geometrie ist ein Kernstück des oben genannten Langlands-Programms, einer Sammlung von Sätzen und Vermutungen, die Zahlentheorie, Analysis und Geometrie miteinander verbinden. Einmal bewiesen, erlauben die Vermutungen weit reichende Folgerungen. So ist es möglich, den Beweis von Fermats letztem Satz auf einen kleinen, allerdings alles andere als einfachen Teil des Langlands-Programms zurückzuführen.
Allmählich wurde klar, dass das Programm sich nicht auf die zweidimensionale hyperbolische Geometrie beschränkt, sondern auch auf höherdimensionale hyperbolische Räume und etliches mehr anwendbar ist. Scholze hat nun das Langlands-Programm auf eine große Klasse von Strukturen im dreidimensionalen hyperbolischen Raum verallgemeinert – und darüber hinaus. Indem er eine perfektoide Version dieses Raums konstruierte, fand er eine gänzlich neue Serie von Reziprozitätssätzen.
Damit stellt sich heraus, so Weinstein, »dass das Langlands-Programm tiefer ist, als wir dachten. Es ist systematischer und allgegenwärtig.«
Mit Scholze über Mathematik zu reden sei ungefähr so, wie ein Orakel zu befragen, sagt Weinstein. »Wenn er sagt, ›ja, das funktioniert‹, dann kannst du darauf vertrauen; wenn er nein sagt, kannst du's gleich aufgeben, und wenn er sagt ›weiß nicht‹ – das kommt vor –, dann herzlichen Glückwunsch. Dann hast du ein richtig interessantes Problem erwischt.«
So anstrengend, wie man befürchten könnte, sei die Zusammenarbeit mit Scholze gar nicht, berichtet Caraiani. Hektik sei eigentlich nie aufgekommen. »Irgendwie hatte man immer das Gefühl, in aller Ruhe das Richtige zu tun: den allgemeinsten Satz zu beweisen, den man bewältigen kann, und das in der schönsten Form, die Konstruktion finden, die alles taghell erleuchtet …«
Nur einmal wurde Scholze selbst richtig hektisch: als es Ende 2013 darum ging, eine Arbeit fertigzustellen, bevor seine Tochter auf die Welt kam. Es sei eine gute Idee gewesen, das Projekt zu forcieren, sagt er selbst. »Danach habe ich erst mal nicht viel hingekriegt.« Als Vater müsse er sich seine Zeit disziplinierter einteilen. Das gehe allerdings nicht so weit, dass er sich bestimmte Stunden am Tag zum Arbeiten freihalten müsse. Er macht halt immer dann Mathematik, wenn er sonst nichts zu tun hat. »Es ist einfach meine Leidenschaft«, sagt er. »Ich will zu jeder Zeit darüber nachdenken.«
Aber er hält nichts davon, diese Leidenschaft romantisch zu verklären. Ob ihm die Mathematik als Schicksal in die Wiege gelegt worden sei? Die Frage sei ihm viel zu philosophisch. Und mit seinem wachsenden Ruhm fühlt er sich alles andere als wohl: »Manchmal ist der Rummel etwas zu viel. Ich versuche, mich davon im Alltag nicht nervös machen zu lassen.«
Nach wie vor arbeitet Scholze an den perfektoiden Räumen; aber inzwischen hat er einen Ausflug zur algebraischen Topologie unternommen, das ist die Fachrichtung, die deformierbare Gebilde mit Mitteln der Algebra untersucht. »In nur anderthalb Jahren ist er zum absoluten Experten auf diesem Gebiet geworden«, sagt Bhatt. Die Fachkollegen sehen es mit einer Mischung aus Furcht und Begeisterung, wenn Scholze ihr Reich betritt. »Das heißt, dass in naher Zukunft viel passieren wird. Man wird den Grenzen der Erkenntnis beim Wandern zusehen können.«
Dabei hat Scholze nach seiner eigenen Wahrnehmung noch gar nicht richtig angefangen. »Bis jetzt bin ich noch in der Lernphase, und dieses oder jenes Ergebnis habe ich vielleicht schon in meinen eigenen Worten ausgedrückt. Aber die Forschung kommt erst noch.«
Von diesem Ausflug abgesehen, ist Scholze seinem eigentlichen Fachgebiet treu geblieben. In dem Überblicksartikel »p-adic Geometry«, den er für den diesjährigen Internationalen Mathematikerkongress in Rio de Janeiro geschrieben hat, fasst er nicht nur seine Forschungen über die seltsame und reichhaltige Welt der p-adischen Strukturen zusammen. Er beschreibt auch deren Beziehungen zur berühmten Langlands-Korrespondenz.
Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und redigierte Fassung des Artikels »The Oracle of Arithmetic« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
Exkurs: Die bizarre Welt der p-adischen Zahlen
Unsere gewöhnliche (dezimale) Schreibweise für Zahlen ist eine Darstellung als Summe von Zehnerpotenzen mit Vorfaktoren (»Koeffizienten«) zwischen 0 und 9. Die Zahl 347 ist eine Kurzform für 3 · 102 + 4 · 101 + 7 · 100. In der Tat kann man jede reelle Zahl mit der Folge ihrer Ziffern identifizieren: an an–1… a1a0, a–1 a–2 a–3… ist im Wesentlichen dasselbe wie an · 10n + an–1 · 10n-1 + … + a1 · 10 + a0 + a–1 · 10–1 + a–2 · 10–2 + a–3 · 10–3 + … Dabei sind die aj Ziffern zwischen 0 und 9. Man muss nur dem Umstand Rechnung tragen, dass - zum Beispiel – die Ziffernfolgen 0,999… und 1,000… dieselbe Zahl bezeichnen.
Allgemein ist in der Mathematik eine Folge eine Menge von – zum Beispiel – Zahlen, deren Elemente mit Nummern (»Indizes«) versehen sind: an bezeichnet das n-te Glied einer Folge, im obigen Beispiel den Faktor von 10n. üblicherweise laufen die Indizes von 1 bis ins Unendliche: a1, a2, a3, … Das ist bei der Dezimaldarstellung reeller Zahlen anders. Hier darf es unendlich viele Glieder mit negativem Index geben. Zum Beispiel schreibt sich die Kreiszahl π als π = 3,14159… = 3 · 100 + 1 · 10–1 + 4 · 10–2 + 1 · 10–3 + 5 · 10–4 + 9 · 10–5 + … oder explizit als Folge geschrieben a0 = 3, a–1 = 1, a–2 = 4, a–3 = 1, ….
Dass die Basis unseres Zahlensystems die Zehn ist, hat keine mathematische Bedeutung. Für das Folgende muss die Basis p des Zahlensystems sogar eine Primzahl sein.
Eine reelle Zahl, geschrieben in der Basis p, ist also eine Folge von Ziffern zwischen 0 und p–1, die unendlich viele Glieder mit negativem, aber nur endlich viele mit positivem Index enthalten darf. Geht das auch andersherum? Was sind das für Zahlen, die unendlich viele Stellen links vom Komma, aber nur endlich viele rechts davon haben dürfen?
Sie heißen p-adische Zahlen, ihr Verhalten ist äußerst gewöhnungsbedürftig, und im Gegensatz zu den reellen Zahlen sind sie zur Beschreibung von Naturvorgängen völlig ungeeignet. Aber man kann mit ihnen fast so rechnen, wie man es aus der Grundschule gewohnt ist. So ist in den 5-adischen Zahlen, wie in den gewöhnlichen Zahlen in der Darstellung zur Basis 5, 4 + 1 = 10. Allerdings ist …4444 + 1 = 0, denn es gibt beim Addieren jedesmal einen Übertrag, und die Kette der Überträge reicht bis ins Unendliche. Auch die Division ist in anderer Reihenfolge auszuführen als nach der Schulmethode.
Es stellt sich heraus, dass die p-adischen Zahlen einen Körper bilden, das heißt eine Menge, in der die vier Grundrechenarten uneingeschränkt durchführbar sind – bis auf die Division durch null. Man pflegt ihn mit ℚp zu bezeichnen.
Wann sind zwei reelle Zahlen nah beieinander? Wenn ihre Differenz eine Null vor dem Komma und viele Nullen dahinter hat. Zwei p-adische Zahlen dagegen sind nah beieinander, wenn ihre Differenz viele Nullen vor dem Komma hat (und nur Nullen dahinter) oder, was dasselbe ist, durch eine hohe Potenz von p teilbar ist. Es schadet nicht, wenn weiter links noch unendlich viele Ziffern folgen. Mit dieser Definition von Nähe gibt es Folgen und Grenzwerte unter den p-adischen Zahlen. Nur kann man sie nicht so übersichtlich auf einer Zahlengeraden anordnen wie die reellen Zahlen.
Potenzieren zählt – als wiederholtes Multiplizieren – zu den Operationen, die in einem Körper stets möglich sind. Nicht aber Wurzelziehen: Unter den reellen Zahlen gibt es kein x mit der Eigenschaft x2 = –1. Diesem Mangel helfen die Mathematiker ab, indem sie den reellen Zahlen quasi per Dekret eine weitere Zahl namens i hinzufügen, von der nichts weiter vorausgesetzt wird als die Eigenschaft i 2 = –1 (sie »adjungieren zum Körper der reellen Zahlen eine Wurzel aus -1«). Damit machen sie im Endeffekt aus den reellen die komplexen Zahlen.
Ähnliches funktioniert mit den p-adischen Zahlen auch. Man adjungiert zum Körper ℚp vorzugsweise eine p-te Wurzel aus p. Anders als bei den komplexen Zahlen ist damit allerdings das Problem des Wurzelziehens nicht ein für alle Mal erledigt. Es erweist sich vielmehr als sinnvoll, auch noch die p-te Wurzel aus der p-ten Wurzel von p zu adjungieren, dann deren p-te Wurzel und so weiter. Das ergibt den im Haupttext angesprochenen unendlichen Turm der Erweiterungskörper von ℚp.
Der Körper ℚp der p-adischen Zahlen hat eine weitere besondere Eigenschaft: Man kann seine Elemente – Folgen von Ziffern zwischen 0 und p–1, von denen unendlich viele mit positiven Indizes, aber nur endlich viele mit negativen Indizes ungleich null sein dürfen – mit neuen Rechenvorschriften versehen, und dann ist es ein ganz anderer Körper.
Diese neuen Regeln stammen ursprünglich aus der komplexen Analysis (Funktionentheorie). Dort studiert man bevorzugt Funktionen, die durch Potenzreihen, das heißt durch unendliche Summen der Form f(z) = a0 + a1z + a2z2 + a3z3 + … darstellbar sind. Und wenn man Funktionen wie 1/z oder 2/z3 + 3z2 nicht aus der Betrachtung ausschließen will, muss man die Summe zu einer »Laurent-Reihe« erweitern, in der auch Koeffizienten mit negativen Indizes vorkommen dürfen: In 1/z ist a–1 = 1, in 2/z3 + 3z2 sind die einzigen Koeffizienten, die ungleich null sind, a–3 = 2 und a2 = 3.
Funktionen dieser Klasse (»meromorphe Funktionen mit endlichem Hauptteil«) werden vollständig durch die Folge ihrer Koeffizienten a–n, a–(n–1), …, a–1, a0, a1, a2, … beschrieben, und wie man solche Funktionen miteinander addiert oder multipliziert, lässt sich über diese Koeffizienten ausdrücken. Das sind zwar eigentlich komplexe Zahlen; aber nichts hindert einen daran, an deren Stelle Elemente eines anderen Körpers zu setzen. In diesem Fall heißt der Körper 𝔽p; es handelt sich um die Zahlen 0, 1, …, p–1, mit denen »modulo p« gerechnet wird: Man addiert und multipliziert zunächst so wie gewohnt und nimmt vom Ergebnis den Rest nach Division durch p.
Fragen von Konvergenz oder Differenzierbarkeit, die in der komplexen Analysis eine Hauptrolle spielten, sind bei diesem Übergang zum endlichen Körper 𝔽p belanglos geworden oder gar nicht mehr formulierbar. Aber über die »formalen Laurent-Reihen über 𝔽p« findet man eine neue Körperstruktur für dieselbe Menge, die schon den Körper ℚp bildet.
Indem man dasselbe Objekt einerseits als Element des einen, andererseits als Element des anderen Körpers interpretiert, kommt man zu weit reichenden Ergebnissen. Aus diesem Kunstgriff bezieht das Konzept vom perfektoiden Raum seine Mächtigkeit.
Christoph Pöppe
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