Fields-Medaille: Mathematikpreis für das Stapeln 24-dimensionaler Kugeln
Ein britischer Zahlentheoretiker, der bereits als dreijähriges Kind spielerische Aufgaben als lächerlich empfand; ein südkoreanischer Kombinatoriker, der lange dachte, er sei schlecht in Mathematik; ein sportbegeisterter französischer Netzwerktheoretiker, der für den Geschmack einiger Professoren zu laut diskutiert; sowie eine ukrainische Zahlentheoretikerin, der es endlich gelang, das Problem der dichtesten Kugelpackungen in hohen Dimensionen zu lösen. Die diesjährigen Gewinner der Fields-Medaille, eine der höchsten Auszeichnungen der Mathematik, könnten unterschiedlicher nicht sein.
Die seit 1936 bestehende Ehrung gilt als eine Art Nobelpreis für Mathematik. Ihr Ansehen in der Forschungsgemeinschaft ist ähnlich hoch. Allerdings wird sie nur alle vier Jahre verliehen – dafür aber an bis zu vier Personen. Und man muss jünger als 40 Jahre alt sein, um den Preis zu erhalten. Die vier diesjährigen Gewinner sind der Netzwerktheoretiker Hugo Duminil-Copin, der Kombinatoriker June Huh, der Zahlentheoretiker James Maynard und die Mathematikerin Maryna Viazovska.
Während schon die Nobelpreise nicht für die Diversität ihrer Empfänger bekannt sind, fällt der Frauenanteil der Fields-Medaillisten noch einseitiger aus: Bis 2018 befand sich unter ihnen nur eine Frau, die Iranerin Maryam Mirzakhani. Zugleich haben von den 60 Preisträgern bis 2018 insgesamt 42 Mathematiker schon einmal am Institute for Advanced Study in Princeton gearbeitet.
Dichte Kugelpackungen in Schwindel erregenden Dimensionen
Umso erfreulicher ist es, dass sich unter den Gewinnern des Jahres 2022 – zum zweiten Mal überhaupt – eine Frau befindet: die 37-jährige Maryna Viazovska von der École Polytechnique Fédérale in Lausanne. Und das nur zu Recht, wie ihre Kolleginnen und Kollegen einstimmig urteilen. Denn 2016, im Alter von gerade einmal 31 Jahren, löste sie ein hartnäckiges Rätsel, an dem sich andere Fachleute seit Jahrzehnten die Zähne ausgebissen hatten.
Es dreht sich um die Frage, wie man Kugeln am besten anordnet, damit sie möglichst wenig Platz verbrauchen: das Problem der dichtesten Kugelpackung. Bereits 1611 dachte Johannes Kepler darüber nach und präsentierte Lösungen, unter anderem jene pyramidenförmige Anordnung, mit der man Orangen im Supermarkt stapelt. Doch beweisen konnte er es nicht. Und wie sich herausstellte, auch viele nach ihm nicht. Obwohl das Problem von großem Interesse war, gelang es Thomas Hale erst 1998 in einer 250-seitigen Arbeit, die darüber hinaus drei Gigabyte an Computerprogrammen umfasste, die Keplersche Vermutung bestätigen.
Kugeln sind aber nicht nur im dreidimensionalen Raum definiert – man kann auch in höheren Dimensionen Analogien dafür finden. Doch da wird es noch komplizierter: denn die zusätzlichen Dimensionen lassen mehr Anordnungen und Symmetrien zu, wodurch eine Lösung weiter entfernt scheint. Zudem scheinen die Abstände zwischen den Kugeln mit wachsenden Dimensionen zuzunehmen: So ist der kleinste achtdimensionale Würfel, der eine achtdimensionale Kugel umhüllt, zu 98 Prozent mit Leerraum gefüllt – im dreidimensionalen Raum sind es lediglich 47 Prozent.
Trotz all dieser Komplikationen fanden Mathematikerinnen und Mathematiker in den 1960er Jahren dennoch Anordnungen von Kugeln in der Dimension 8 und 24, von denen sie dachten, sie seien optimal. Im achtdimensionalen Raum gingen sie beispielsweise von Keplers Lösung aus und übertrugen sie auf die hohen Raumdimensionen. In diesem Fall waren die Leerräume zwischen den Kugeln so groß, dass man gerade so eine weitere Kugel hineinsetzen konnte. So entstand das so genannte E8-Gitter. Ähnliches ließ sich in 24 Dimensionen übertragen, was zum Leech-Gitter führte. Doch wieder einmal steckten die Fachleute in der Klemme: Sie hatten zwar gute Anhaltspunkte und auch eine Idee, wie man die Hypothese beweisen könnte, aber es gelang ihnen nicht. Ob sie erneut mehrere Jahrhunderte warten müssten, bis jemand den entscheidenden Schritt erbringt?
Glücklicherweise nicht. Ein Kollege überredete Viazovska, sich zusammen mit ihm und einem anderen Mathematiker dem Problem zu widmen. Sie stürzte sich sogleich auf das Thema. Nach einiger Zeit, in der sie nur wenige Fortschritte erzielten, gaben die zwei Männer auf – doch nicht so Viazovska. Sie ließ nicht los und arbeitete während zwei Jahren intensiv an der anspruchsvollen Aufgabe, bis sie schließlich eine Lösung hatte. Anders als es bei ihrem Kollegen Hales der Fall war, umfasst ihre Publikation lediglich 22 Seiten und kommt ganz ohne Computer aus.
Sofort machte ihre Arbeit in der Mathematik-Community die Runde. Noch am selben Abend ihrer Veröffentlichung erhielt sie die begeisterte E-Mail eines Fachkollegen, der sie darum bat, mit ihm am 24-dimensionalen Fall weiterzuarbeiten. Nach der Anstrengung sei sie zwar sehr müde gewesen und wollte sich etwas Ruhe gönnen, erzählte sie dem Quanta Magazine. Dennoch gelang es ihr, ihren Ansatz zusammen mit anderen Mathematikern innerhalb einer Woche auf 24-dimensionale Kugeln zu erweitern – und damit die beiden jahrzehntealten Vermutungen ein für alle Male beizulegen.
Die Lücken zwischen Primzahlen
Der britische Zahlentheoretiker James Maynard stach mit seinem Talent schon als Kind heraus. Als ihm im Alter von drei Jahren eine Gesundheitsbeamtin einen routinemäßigen Besuch abstattete, um zu prüfen, ob er sich gut entwickelte, empfand er die von ihr gestellten Aufgaben als langweilig. Einfach nur Holzklötze gemäß ihrer Form zu sortieren, erschien ihm nicht besonders spannend – daher schlug er interessantere Ordnungsweisen vor. In den folgenden Jahren fiel er auch in der Schule auf, insbesondere weil er seine Lehrerinnen und Lehrer gerne in den Wahnsinn trieb. Dennoch und wurde er schnell erfolgreich: Mit gerade einmal 35 Jahren ist er der jüngste der diesjährig ausgezeichneten Mathematiker.
Direkt nach seiner Promotion an der University of Oxford begann seine Forscherkarriere mit einem frustrierenden Erlebnis: Ihm gelang 2013 ein erstaunlicher Beweis, der sich um ein bedeutendes zahlentheoretisches Problem über die Abstände von Primzahlen dreht – doch nur wenige Monate zuvor war das einem Kollegen ebenfalls gelungen; wenn auch mit anderen Methoden. Maynards Arbeit hat mit der Primzahlzwillings-Vermutung zu tun: Der Frage, ob es unendlich viele Primzahlen gibt, die einen Abstand von zwei haben, wie 3 und 5 oder 11 und 13. Diese jahrhundertealte Hypothese konnte er zwar nicht beweisen, aber er konnte zeigen, dass es unendlich viele Primzahlpaare gibt, die einen Abstand von höchstens 600 haben (inzwischen wurde der Wert auf 246 gesenkt).
Auch wenn eine andere Person Maynard zuvorgekommen war, erregte er mit seiner Arbeit die Aufmerksamkeit vieler Zahlentheoretiker. Es ist erstaunlich, dass ein gerade erst promovierter Mathematiker sich an solche Aufgaben heranwagt – und dabei auch noch ein Ergebnis erzielt. Inzwischen lehrt Maynard an University of Oxford. Tatsächlich sei die Verleihung der Fields-Medaille nicht das bedeutendste Ereignis in dieser Woche, erzählt er. Denn seine Frau ist hochschwanger erwartet in jedem Moment ihr Kind.
Jahrzehntealte Vermutung zufällig gelöst
Der südkoreanischer Kombinatoriker June Huh hat hingegen eher durch Zufall den Zugang zur Mathematik gefunden. Als er in der Grundschule eine schlechte Mathematiknote bekam, war er zunächst überzeugt, in dem Fach nicht besonders talentiert zu sein. Weil sein Vater in Seoul Statistik unterrichtete, versuchte er, auch seinen Sohn dafür zu begeistern, indem er ihn Rechenaufgaben aus einem Buch auftrug. Doch Huh schrieb sie nur aus dem Lösungsteil ab – er fand kein wirkliches Interesse daran.
Nach der Schule spielte er mit dem Gedanken, Wissenschaftsjournalist zu werden, und belegte Kurse zu Astronomie und Physik an der Seoul National University. Dort lernte er den japanischen Mathematiker – und ebenfalls Fields-Medaillen-Gewinner – Heisuke Hironaka kennen, der ihn während seines Forschungsaufenthalts in Seoul unter seine Fittiche nahm. Er führte Huh in die algebraische Geometrie und insbesondere in seine Forschung zur Singularitätentheorie ein. Nach dem Master-Abschluss überzeugte Hironaka seinen Studenten, sich für eine Doktorarbeit in den USA zu bewerben.
Doch Huh hatte Schwierigkeiten, eine Zusage zu bekommen. Seine Leistungen im Studium waren nicht besonders herausragend gewesen. Er schickte etwa ein Dutzend Anfragen ab und erhielt von allen Universitäten Absagen – außer von einer: Die University of Illinois in Urbana-Champaign nahm ihn dank des Empfehlungsschreibens von Hironaka an. Dort nutzte Huh sein erlangtes Wissen über Singularitätentheorie, um Graphen zu untersuchen (Netzwerke aus verbundenen Punkten). Auf diese Weise stolperte er über die Erkenntnis, dass Graphen immer eine bestimmte Eigenschaft besitzen. Als er sein Ergebnis in der Fachliteratur nachschlagen wollte, stellte er mit Erstaunen fest, dass er gerade eine jahrzehntealte Vermutung gelöst hatte!
Die Fachwelt war begeistert – und schnell boten ihm Universitäten eine Forschungsstelle an, die ihn zuvor abgelehnt hatten. Inzwischen hat Huh einen Lehrstuhl an der prestigeträchtigen Princeton University. Denn Huh hatte nicht nur eine Hypothese belegt, sondern erstmals gezeigt, dass man mit bestimmten Methoden aus der algebraischen Geometrie Probleme der Graphentheorie – und darüber hinaus – angehen kann. Durch die Verbindung verschiedener Forschungsfelder konnte er weitere bedeutende Vermutungen beweisen. Dabei legt er viel Wert auf Perfektion: So schreckt er nicht davor zurück, eine Arbeit, die er als nicht elegant genug ansieht, ein oder zwei Jahre zu überarbeiten – auch wenn die erste Version bereits korrekt ist.
Sport oder Mathematik?
Auch für Hugo Duminil-Copin, der in der Nähe von Paris aufwuchs, war es alles andere als klar, dass er Mathematiker werden würde. Er war zwar schon immer gut in dem Fach gewesen, doch seine Leidenschaft galt dem Sport. Er verbrachte viel Zeit im Freien, ging wandern, fuhr Ski und unternahm Campingausflüge mit Freunden. Als er sich für eine Oberstufe entscheiden sollte, dachte er zunächst über eine Sportschule nach, die sich auf Handball spezialisiert hatte.
Aber er entschied sich für die Naturwissenschaften. Physik bereitete ihm besonders viel Spaß, doch Duminil-Copin empfand einen mathematischen Beweis als die höchste Kunstform. Und schließlich entdeckte er die Perkolationstheorie: Diese widmet sich Netzwerken und der Frage, wie sich deren Eigenschaften ändern, wenn man Verbindungen zwischen den Punkten entfernt oder hinzufügt. In der Anwendung dienen Netzwerke häufig als Modelle für poröse Gesteine oder Ausbreitungsmechanismen von Krankheiten und Waldbränden. Zur großen Freude des Mathematikers hängt das Thema außerdem mit der physikalischen Theorie von Phasenübergängen zusammen: Denn kleinste Änderungen in einem Netzwerk können zu völlig unterschiedlichem Verhalten führen – so, wie eine leichte Temperaturerhöhung festes Eis in flüssiges Wasser verwandeln kann.
Bis 2008 zogen Fachleute jedoch meist ein einziges Perkolationsmodell heran, denn nur dieses konnten sie lösen. Alle übrigen Variationen erwiesen sich als zu schwierig – ihre Methoden versagten, sobald sie etwa eine weitere Raumdimension oder eine andere Form des Graphen betrachteten. Als Doktorand an der Université de Genève fand Duminil-Copin eine erstaunliche Möglichkeit, um ein Problem aus der Perkolationstheorie zu lösen, das über das bekannte Modell hinausgeht. Noch am Abend seiner Promotion im Jahr 2012 bot ihm seine Universität angesichts der beeindruckenden Leistung eine Professorenstelle an, die er bis heute innehat. Dort erforscht er den kritischen Punkt, bei dem ein Phasenübergang in einem Modell einsetzt; untersucht, wie sich ein Graph ober- und unterhalb des kritischen Punkts verhält, und verfolgt, was während des Übergangs passiert. Für seine erstaunlichen Fortschritte in dem Bereich verlieh ihm die Internationale Mathematische Union die prestigeträchtige Fields-Medaille.
Diese wurde nun zum 20. Mal in Helsinki übergeben – doch anders als in den vergangenen Jahren fand die Verleihung dieses Mal nicht auf dem internationalen Mathematikerkongress statt, der offiziell am 6. Juli 2022 startet. Grund dafür ist ausnahmsweise nicht die Coronapandemie, sondern der Ukraine-Krieg. Ursprünglich sollte der alle vier Jahre stattfindende Kongress in Sankt Petersburg abgehalten werden. Schon nach Bekanntgabe des Austragungsorts vor einigen Jahren unterschrieben mehr als 400 Mathematikerinnen und Mathematiker eine Petition, die darum bat, angesichts der Vergehen des Kremls gegen die Menschenrechte, eine andere Wahl zu treffen.
Nach Ausbruch des Kriegs Ende Februar 2022 traf die internationale Mathematische Union etwa eine Woche später eine Entscheidung: Der Kongress solle zur angekündigten Zeit stattfinden, allerdings als digitale Veranstaltung. Die Versammlung der Mitglieder und die Preisverleihungen finden in Helsinki statt, während die Vorträge der ranghohen Fachleute von aller Welt aus übertragen werden. Die ukrainische Preisträgerin Viazovska ist durch die aktuelle Situation auch privat stark betroffen. Sie selbst lebt zwar in Lausanne, allerdings hat sie Familie in der Ukraine: Ihre zwei Schwestern konnten mit ihren Kindern inzwischen zu ihr in die Schweiz flüchten, doch ihre Eltern weigern sich, ihren Heimatort Kiew zu verlassen. »Tyrannen können uns nicht davon abhalten, Mathematik zu betreiben«, schließt sie im Interview mit dem Quanta Magazine. »Es gibt zumindest etwas, das sie uns nicht wegnehmen können.«
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