Der Mathematische Monatskalender: Ludwig Schläfli (1814–1895): Ein genialer Tölpel
»… (er sei) ein ländlicher Mathematiker bei Bern, für die Welt ein Esel, der genialste Tölpel, der mir je vorgekommen ist, aber Sprachen lerne er wie ein Kinderspiel …«, mit diesen Worten pries Jakob Steiner gegenüber seinen Kollegen Carl Gustav Jacob Jacobi, Peter Gustav Lejeune Dirichlet und Karl Wilhelm Borchardt seine neue Bekanntschaft, den 29-jährigen Landsmann Ludwig Schläfli, als Begleiter für ihren gemeinsamen Italienaufenthalt an.
1843 war der Königsberger Mathematikprofessor Jacobi an Diabetes erkrankt; ein Antrag an den preußischen König auf Erholungsurlaub im milden Klima Italiens war – dank der Unterstützung durch Alexander von Humboldt – genehmigt worden; der Berliner Mathematikprofessor Dirichlet durfte Jacobi begleiten. Bei einem Zwischenaufenthalt in Bern trafen sie auf Steiner, der gerade seine alte Heimat besuchte und dabei Schläfli kennen gelernt hatte.
Schlechter Unternehmer
Ludwig Schläfli wird als ältester Sohn von Johann Ludwig Schläfli und Magdalena Aebi in Grasswil im Kanton Bern geboren (heute zur Gemeinde Seeberg gehörend); die Familie zieht bald darauf ins benachbarte Burgdorf, wo der Vater als Händler versucht, die wachsende Familie (vier Kinder) zu ernähren.
Bereits auf der Volksschule in Burgdorf fällt auf, dass Ludwig ein Talent für mathematische Aufgabenstellungen hat, während er ansonsten eher als ungeschickt gilt. Als der Vater seinen 15-jährigen Sohn mit einem Korb voller Waren zum Hausieren in benachbarte Dörfer schickt, wird deutlich, dass dieser nicht als Nachfolger für sein Handelsgeschäft taugt: Ludwig will einfach nicht begreifen, dass man eine Ware teurer verkaufen muss, als man selbst dafür bezahlt hat.
So stimmt der Vater dem Angebot zu, dass der Junge – dank eines Stipendiums – ein Gymnasium in Bern besuchen kann. Ludwig hat keine Probleme mit den Anforderungen der höheren Schule; in Mathematik arbeitet er neben dem aktuellen Unterrichtsstoff den Band »Mathematische Anfangsgründe der Analysis des Unendlichen« des Göttinger Professors Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800) durch.
Nach zweijährigen Schulbesuch wechselt Ludwig Schläfli zum Studium der Theologie auf die Berner Akademie, die 1834 in die Universität Bern integriert wird. 1836 besteht er seine Prüfung, zu der auch eine Probepredigt gehört. Ein Pfarramt strebt er aber nicht an, auch – wie er seinen Eltern gegenüber gesteht – »weil er nicht alles glaubt«.
Frustrierter Lehrer
Zehn Jahre lang arbeitet er als schlecht bezahlter Lehrer für die Fächer Mathematik und Naturlehre am Progymnasium in Thun. An einem Tag in der Woche fährt er zur Berner Universität, um seine Fachkenntnisse zu erweitern; jede freie Minute nutzt er zum Selbststudium, auch zum Erlernen von Fremdsprachen. Mittlerweile beherrscht er neben Latein, Griechisch und Hebräisch auch Englisch, Französisch und Italienisch.
1843, gerade, als er darüber nachdenkt, nach Berlin zu reisen, um dort mit seinem Landsmann Jacob Steiner Kontakt aufzunehmen, erfährt er, dass dieser nach Bern gekommen ist (angeblich zur Erholung, aber eher wohl, um die Chancen für einen Ruf an die neu gegründete Universität Bern auszuloten). Steiner ist von Schläflis Fachwissen beeindruckt und noch mehr von seiner schnellen Auffassungsgabe. Und als er von dessen Sprachkenntnissen erfährt, ist der Entschluss gefasst: Schläfli soll der kleinen Reisegruppe (Steiner, Dirichlet, Jacobi, Borchardt) in Italien als Dolmetscher dienen.
Italienreise als Chance
Nachdem Schläfli für eine Vertretungskraft an der Schule gesorgt hat (die er selbst bezahlen muss), reist er mit Steiner nach Rom, wo sie mit den anderen zusammentreffen. Täglich erhält er von Dirichlet eine Privatvorlesung über Zahlentheorie; er übersetzt Abhandlungen von Steiner und Jacobi ins Italienische. Bei den Fachgesprächen mit den italienischen Wissenschaftlern wird Schläfli als vollwertiges Mitglied der Reisegruppe geschätzt.
Als Schläfli nach einem halben Jahr wieder nach Thun zurückkehrt, fühlt er sich in seiner Tätigkeit als Lehrer noch unwohler als zuvor. Seine Bewerbung auf eine Teilstelle einer Professur in Physik, Mathematik und Astronomie an der Universität Bern wird 1847 angenommen – allerdings gibt man ihm zunächst nur die Aussicht auf ein Honorar.
Von 1848 an erhält er als Privatdozent ein Jahresgehalt von 400 Franken, wovon er kaum leben kann. Freunde vermitteln ihm Privatstunden, damit er nicht hungern muss; nebenbei arbeitet er für eine Versicherung. Als er auf ein geringes Erbe seiner Eltern zu Gunsten seiner geistig behinderten Schwester verzichtet, wehrt sich der gutmütige Gelehrte nicht dagegen, dass er trotzdem eine höhere Steuer zahlen soll.
Chronisch unterbezahlt
Erst 1853, mit seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor, wird sein Jahresgehalt auf 1200 Franken heraufgesetzt, wovon er endlich seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Spätere Gehaltserhöhungen (auf 2000 Franken nach seiner Ernennung zum ordentlichen Professor) bis zuletzt 1879 auf 4000 Franken verdankt er dem Einsatz seiner Kollegen und seiner Studenten, die seine Tätigkeit an der Hochschule mehr zu schätzen wissen als die Verantwortlichen in der Regierung.
Schläfli ist als Hochschullehrer sehr beliebt; seine Vorlesungen bereitet er akribisch vor. Seinen Studenten, insbesondere seinen zwölf Doktoranden, von denen sechs später eine Professur erlangen, ist er äußerst zugetan. Nur auf Grund des beharrlichen Drängens von Steiner verleiht ihm die Universität Bern 1863 die Ehrendoktorwürde.
Seine erfolgreiche Lehrtätigkeit setzt Schläfli bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1891 fort (er ist dann bereits 77 Jahre alt). Danach konzentriert er sich auf sprachwissenschaftliche Forschungen; dank seiner besonderen Begabung hat er im Lauf der Jahre auch Neu-Persisch, Arabisch, Koptisch, Polnisch, Russisch, Schwedisch und Türkisch gelernt, außerdem Vedisch und Sanskrit. Die geplante Übersetzung des »Rigveda«, eine der wichtigsten Schriften des Hinduismus, kann er nicht mehr vollenden.
Obwohl ihm 1870 der Steiner-Preis der Berliner Akademie der Wissenschaften zugesprochen wird und er korrespondierendes Mitglied der wissenschaftlichen Akademien in Göttingen, Rom und Mailand ist, finden nicht alle seine Abhandlungen die Beachtung, die sie verdient hätten – in manchem ist er seiner Zeit voraus.
Bedeutende Ergebnisse
Die Veröffentlichung seines Hauptwerks, die Anfang der 1850er Jahre entstandene »Theorie der vielfachen Kontinuität«, wird von den Akademien in Wien und Berlin abgelehnt (auch wegen des Umfangs). Teile davon übersetzt Arthur Cayley 1860 ins Englische; die vollständige Fassung erscheint posthum im Jahr 1901.
Mit seinem Hauptwerk legt Schläfli – zusammen mit Cayley und Bernhard Riemann – die Grundlagen einer mehrdimensionalen Geometrie. Er verallgemeinert die Begriffe »Polygon« im Zweidimensionalen und »Polyeder« im Dreidimensionalen zu »Polyschema« (heute: »Polytope«) im n-Dimensionalen. Auch findet er die Verallgemeinerung des eulerschen Polyeder-Satzese – k + f = 2 (Anzahl der Ecken – Anzahl der Kanten + Anzahl der Flächen = 2) zu \(\sum_{i=0}^{n-1} (-1)^i\cdot k_i=2,\) wobei mit ki die i-dimensionalen Begrenzungselemente bezeichnet sind. Er kann beweisen, dass es nur sechs verschiedene regelmäßige Polytope im Vierdimensionalen gibt, in höheren Dimensionen sind es nur jeweils drei.
Für Polygone, Polyeder und so weiter führt er eine Schreibweise ein, die so genannte Schläfli-Symbole: Regelmäßige n-Ecke werden mit {n} bezeichnet, regelmäßige Stern-Polygone, bei denen die n Ecken jeweils mit der k-nächsten Ecke verbunden werden, mit {n/k}. Regelmäßige Polyeder werden durch {p,q} charakterisiert, wobei q die Anzahl der an den Ecken des Körpers zusammentreffenden regelmäßigen Polygone mit p Ecken angibt.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben