Der mathematische Monatskalender: Moritz Abraham Stern (1807–1894): Das Sprachgenie
Moritz Abraham Stern wurde als Sohn des wohlhabenden Kaufmanns und Buchhändlers, des Schutzjuden Abraham Süßkind Stern (also eines Juden mit anerkanntem Residenzrecht), in Frankfurt am Main geboren. Vor ihrer Heirat hatte seine Mutter Vögele Eva Reiß ein Seidengeschäft geführt, mit dem sie ihre Eltern und Geschwister unterstützte; denn diese hatten durch einen Großbrand im jüdischen Getto Frankfurts alle Besitztümer verloren. (Einer der Brüder von Abraham Süßkind Stern war übrigens ein Ururgroßvater Anne Franks.)
Unterrichtet wird Moritz nur durch Privatlehrer; dabei zeigt der Junge großes Interesse an der Mathematik und eine besondere Begabung für Sprachen – so beherrschte er neben Hebräisch und Jiddisch auch verschiedene antike Sprachen: Latein und Griechisch sowie Chaldäisch (Aramäisch) und Syrisch.
Übrigens lernte Moritz Abraham Stern im Alter von 80 Jahren auch noch Russisch, um russische Literatur und mathematische Schriften im Original lesen zu können.
Mathematiker statt Rabbiner
Mit 19 Jahren beginnt Moritz an der Universität zu Heidelberg ein Studium der Mathematik – vergeblich hat die Mutter bis zuletzt darauf gehofft, dass aus ihrem Sohn einmal ein angesehener Rabbiner würde. Auf Anraten eines Freundes wechselt er bereits nach einem Semester nach Göttingen, wo er – angeregt durch die Vorlesungen von Carl Friedrich Gauß – ein besonderes Interesse an der Zahlentheorie entwickelt. Darüber hinaus besucht er auch Vorlesungen in Physik und Chemie sowie in den klassischen Sprachen.
Im Alter von 22 Jahren verfasst er seine Dissertation über die Theorie der Kettenbrüche (»Observationum in fractiones continuas specimen«) bei Bernhard Friedrich Thibault. Als dieser am Tag der mündlichen Prüfung erkrankt ist, muss Gauß kurzfristig einspringen. Später gesteht Gauß, dass er bei dieser seiner ersten mündlichen Prüfung eines Doktoranden wohl aufgeregter war als der Prüfling.
Nach seiner Habilitation 1830 lehrt Stern als Privatdozent acht Jahre lang unentgeltlich an der Göttinger Universität, bevor ihm endlich ein Jahresgehalt von 150 Talern zugestanden wird – ein Zehntel des Gehalts eines Ordinarius.
Stern hört nicht auf den Rat seiner vermögenden Familie und seiner Freunde, die es für sinnlos erachten, dass er weiter auf eine akademische Laufbahn hofft, denn bisher ist es noch keinem Dozenten jüdischen Glaubens gelungen, eine Professur zu erlangen. Als Konsequenz dieses antisemitischen Verhaltens lassen sich in dieser Zeit zahlreiche jüdische Gelehrte taufen, um überhaupt eine Chance auf eine Universitätskarriere zu haben – die Ernennung eines jüdischen Wissenschaftlers zum Professor an einer deutschen Universität wäre in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Sakrileg angesehen worden und hätte eine heftige Protestwelle hervorgerufen.
Stern zählt sich selbst nicht zu den tief religiösen Menschen, sieht aber aus prinzipiellen Gründen und weil er sich seiner Familie und seinen Vorfahren gegenüber verpflichtet fühlt, keinen Anlass, zum Christentum zu konvertieren. Er engagiert sich im Frankfurter Verein der Reformfreunde, deren Anliegen es ist, den Zwiespalt zwischen den religiösen Satzungen des Judentums und den Ansprüchen des praktischen Lebens zu lösen.
Es geht bergauf!
1841 gewinnt Stern einen Preis der Belgischen Akademie der Wissenschaften für eine Abhandlung über quadratische Reste, und im selben Jahr gewinnt er mit einer Arbeit über die Auflösung transzendenter Gleichungen auch einen ausgeschriebenen Wettbewerb der Dänischen Akademie.
1844 heiratet Stern die aus Frankfurt stammende Bertha Simon; die Hochzeit kann allerdings nicht in seiner Heimatstadt stattfinden, weil das von der Behörde zugelassene Jahreskontingent von 15 jüdischen Hochzeiten bereits erreicht ist. In der Ehe wird als erstes Kind ihr Sohn Alfred geboren; ein zweiter Sohn wird nur drei Jahre alt. Bertha Stern stirbt 1850 bei der Geburt des dritten Kindes Emma.
Nach 19-jähriger Wartezeit als Privatdozent wird Stern 1848 endlich zum Extraordinarius in Göttingen ernannt; dies ist allerdings nicht mit einer Erhöhung seines Jahresgehalts verbunden.
Als dann 1859 Peter Gustav Lejeune Dirichlet stirbt und in Göttingen zwei Ordinariatsstellen für Mathematik unbesetzt sind, wird zunächst Bernhard Riemann berufen und – da kein ebenbürtiger Bewerber in Sicht ist – endlich auch Moritz Abraham Stern; er ist damit der erste Ordinarius jüdischen Glaubens in Deutschland überhaupt.
Es wäre nicht angemessen, Moritz Stern nur wegen dieses bedeutsamen historischen Ereignisses in der Geschichte der Juden in Deutschland hervorzuheben. Neben Gauß und Riemann verblasst natürlich das Bild seiner Beiträge zum Fach Mathematik. Stern veröffentlicht zahlreiche Abhandlungen in deutschen, französischen und belgischen Fachzeitschriften, insbesondere über Themen aus der Zahlentheorie und der Theorie der Kettenbrüche, aber auch über unendliche Reihen und zur Funktionentheorie sowie über Eigenschaften der Bernoulli-Zahlen sowie der Euler-Zahlen (Anzahl der Permutationen der Zahlen von 1 bis n, die k »Anstiege« enthalten).
Stern verfasst zwei populäre Bücher zur Astronomie, übersetzt Siméon Poissons Lehrbuch der Mechanik und veröffentlicht 1860 sein Lehrbuch der algebraischen Analysis. Berühmt ist seine Gedenkrede auf Carl Friedrich Gauß, bemerkenswert sind seine Beiträge über die Gelehrten Johannes von Gemunden und Regiomontanus, die in einer Enzyklopädie erscheinen.
Unteilbare Zahlen
Eine seiner Abhandlungen befasst sich mit einer 1752 von Christian Goldbach aufgestellten Vermutung:
- Jede ungerade natürliche Zahl lässt sich in der Form p + 2a2 darstellen, wobei p eine Primzahl ist und a eine ganze Zahl.
Beispiele: 9 = 7 + 2·12, 11 = 3 + 2·22, 15 = 7 + 2·22, 21 = 3 + 2·32, 49 = 17 + 2·42.
Stern findet heraus, dass die Zahlen 5777 und 5993 die goldbachsche Bedingung nicht erfüllen (so genannte sternsche Zahlen). Außerdem kann er beweisen, dass die einzigen Primzahlen p, die sich nicht in der Form p' + 2a2 (mit p' kleiner als p und a größer null) darstellen lassen, die Zahlen 17, 137, 227, 977, 1187 und 1493 sind (so genannte sternsche Primzahlen). Auch die Primzahlen 2 und 3 werden heute zu den Ausnahmen gezählt, da die Zahl 1 nicht mehr zu den Primzahlen gezählt wird, wie dies noch zu Sterns Zeiten üblich ist.
Berühmt wird Moritz Stern wegen seines 1858 in »Crelles Journal« eingereichten Beitrags »Über eine zahlentheoretische Funktion«, in der er mit Hilfe eines Baumdiagramms im Prinzip die Abzählbarkeit der positiven rationalen Zahlen beschreibt. Unabhängig von Stern entdeckt der geniale französische Uhrmacher Achille Brocot zwei Jahre danach dieselbe Baumstruktur, als er nach einem Algorithmus sucht, durch den man Näherungsbrüche für rationale Zahlen finden kann:
- Mit Hilfe welcher Zahnräder mit einer möglichst kleinen Anzahl von Zähnen kann man ein bestimmtes Übersetzungsverhältnis näherungsweise realisieren?
Grundlegende Idee des »Stern-Brocot-Baums« ist die Bildung so genannter Medianten (Ende des 15. Jahrhunderts eingeführt durch Nicolas Chuquet). Der Mediant von m1 = a/b und m2 = c/d ist definiert als mMed = (a+c)/(b+d).
Als 1884 Sterns Tochter Emma stirbt – diese hatte sich viele Jahre lang um den früh verwitweten Vater gekümmert –, beendet Stern seine 25-jährige Tätigkeit als Ordinarius an der Göttinger Universität und zieht in die Schweiz. Dort lebt er im Hause seines Sohns Alfred, der zunächst in Bern, dann in Zürich einen Lehrstuhl für Geschichte innehat. Moritz Abraham Stern stirbt in dessen Haus im Alter von 86 Jahren – ohne jemals ernsthaft krank gewesen zu sein.
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