CERN: Der Letzte seiner Art?
Die Zukunft der experimentellen Teilchenphysik hängt an einem seidenen Faden: Findet der Large Hadron Collider (LHC) am Teilchenforschungszentrum CERN bei Genf keine eindeutigen Hinweise auf eine irgendwie geartete neue Physik, dürfte dies das Aus der großen, internationalen Beschleunigeranlagen einläuten. Die 27 Kilometer lange und mehrere Milliarden Euro teure Kette aus tonnenschweren, supraleitenden Magneten mit den vier haushohen Nachweisgeräten Atlas, CMS, Alice und LHCb wird dann wohl genauso sang- und klanglos eingemottet werden wie jüngst das Tevatron in den Vereinigten Staaten oder vor fünf Jahren die 6,3 Kilometer lange Elektronen-Protonen-Beschleunigeranlage HERA beim Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY in Hamburg. Mit dem LHC endete dann die experimentelle Teilchenphysik, bei der sich die Versuchsbedingungen reproduzierbar einstellen lassen. Die Physiker wären künftig auf Zufallsergebnisse aus der kosmischen Strahlung angewiesen.
Mit dem LHC wird derzeit vor allem das sogenannte Higgs-Boson gesucht – so wie vorher bereits mit all seinen Vorgängern. Das geheimnisvolle Teilchen wurde vor fast fünfzig Jahren vom britischen Physiker Peter Higgs postuliert und soll all den anderen Partikeln im sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik ihre Massen verleihen. Denn prinzipiell funktionieren die mathematischen Grundlagen des Standardmodells genauso prächtig, wenn Quarks und Co keine Massen besäßen.
Die Wirkung des postulierten Higgs-Felds vergleicht CERN-Cheftheoretiker John Ellis mit dem eines Tiefschneefeldes: Mit Skiern gleitet man leicht darüber – was in Analogie zur Realität einem Teilchen ohne Masse entspräche. Geht man jedoch mit Schneeschuhen über die weiße Pracht, so ist man in seiner Bewegung eingeschränkt – was in der Realität einem Teilchen mit einer relativ kleinen Masse entspräche. Schwere Teilchen bewegen sich im Higgs-Feld dagegen so träge wie Winterwanderer ohne jegliche Hilfsmittel. Um im Bilde zu bleiben, wären die gesuchten Higgs-Bosonen dann die Schneeflocken. Ellis vermutet sogar, dass alle Elementarteilchen kurz nach dem Urknall noch gar keine Masse besessen hätten, weil das Higgs-Feld bei den damals vorherrschenden gewaltigen Temperaturen des frühen Universums sozusagen "geschmolzen" war.
2012 bringt die Entscheidung
Schon die kommenden Monate sollen die Entscheidung bringen: Zumindest die Führungsriege des CERN – allen voran der Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer – rechnen fest damit, in Kürze die Frage nach der Existenz des Higgs beantworten zu können. Oder aber das vielgesuchte Teilchen war doch nur ein Phantom, dem Tausende von Physikern jahrzehntelang nachjagten.
Nach neuesten Auswertungen der aktuellen Daten der beiden LHC-Experimente Atlas und CMS könnte das Higgs-Teilchen eine Masse um die 125 Gigaelektronenvolt (GeV) besitzen: In Vielfachen eines Elektronenvolts geben Physiker die Massen von Elementarteilchen an, wobei die Vorsilbe "Giga" für eine Milliarde steht. Das Higgs-Boson wäre damit gut 130 Mal schwerer als ein Proton oder ungefähr so schwer wie ein Zäsiumatom.
Das nun gesuchte Higgs-Teilchen müsste noch nicht einmal elementar sein. Das "größte vorstellbare Desaster", das sich ein Physiker vorstellen könnte, sei denn auch ein einziges, relativ leichtes Standardmodel-Higgs-Boson, meint John Ellis. Er glaubt, dass es aus anderen elementaren Bausteinen zusammengesetzt sein könnte, so wie Schneeflocken aus Wassermolekülen bestehen.
Ein Higgs allein macht noch keine neue Physik
Doch selbst wenn mit dem Higgs-Boson der letzte Baustein des Standardmodells gefunden wäre, blieben viele Fragen offen. Ellis fasst sie folgendermaßen zusammen: Warum gibt es eigentlich unterschiedliche Generation an Elementarteilchen: zwei mal drei Quarks und zwei mal drei Leptonen – die Teilchen, denen auch die Elektronen zugerechnet werden? Warum sind es gerade drei Familien? Wie können sich die Elementarteilchen ineinander umwandeln? Weswegen unterscheidet sich Antimaterie in einigen Versuchen minimal von der Materie? Ein Umstand, dem wir wohl unsere Existenz mit zu verdanken haben, wenngleich die in den Laboren gemessene Diskrepanz allein nicht ausreicht, um den Überschuss an Materie im Universum zu erklären. Was ist die so genannte dunkle Materie, die bis zu achtzig Prozent der Schwerkraft im Universum ausmacht? Lassen sich die vier fundamentalen Kräfte – die elektromagnetische, die Schwerkraft sowie die schwache und starke Kernkraft – vereinigen? Wie sähe eine quantenphysikalische Beschreibung der Gravitation aus? Sträubt sich die in kosmischen Dimensionen vorherrschende Schwerkraft doch bislang beharrlich, sich im Mikrokosmos genauso beschreiben zu lassen wie alle anderen Kräfte.
Ebenso unbefriedigend ist für die Physiker, dass ihr an und für sich bestens funktionierendes Standardmodell durch mindestens 19 verschiedene Parameter charakterisiert wird. Haben Neutrinos eine Masse, kommen weitere Kenngrößen hinzu. All diese Hilfsgrößen sind derzeit "gottgegeben" und müssen einzeln experimentell bestimmt werden. Kleinste Abweichungen in deren Werten hätten zudem dazu geführt, dass unsere Welt heute ganz anders aussähe – oder sie wäre erst gar nicht entstanden. "Niemand glaubt daher, dass das Standardmodell das Ende der Geschichte sei", sagt Ellis.
Ein Modell, welches das Standardmodell fortschreiben soll, ist die so genannte Supersymmetrie. Demnach sollte es zu allen bekannten Elementarteilchen "supersymmetrische" Partner geben, die sich quantenmechanisch genau anders verhalten als unsere bisher entdeckten Grundbausteine und Kräfte. Die Theorie würde helfen, die fundamentalen Kräfte zu vereinheitlichen. Zugleich wäre das leichteste diese supersymmetrischen Teilchen ein heißer Kandidat für die dunkle Materie. Viele Modelle gehen davon aus, dass es eine Masse von etwa einem Teraelektronenvolt (TeV; Tera steht für eine Billion) besitzt und somit im Messbereich des LHC liegt. Doch weder CMS noch Atlas fanden bislang irgendwelche Hinweise auf supersymmetrische Teilchen.
Die Supersymmetrie könnte ebenso die augenfällige Materie-Antimaterie-Diskrepanz im Universum erklären. Dazu müssten sich nach Ansicht des verstorbenen russischen Physikers und Friedensnobelpreisträgers Andrei Sacharow jedoch Quarks in Leptonen umwandeln können. Das Nachweisgerät LHCb untersucht derzeit diese Fragestellungen, hat aber bislang noch nichts dergleichen beobachtet.
Wenn Gravitation schwer wird
Zusammen mit dem Konzept der Extradimensionen – mikroskopisch kleinen "aufgewickelten" Dimensionen, die sich im Alltag verborgen halten – bildet die Supersymmetrie zudem die Basis für die Stringtheorie. Dort werden alle elementaren Bestandteile nicht mehr als punktförmige Objekte beschrieben, sondern als winzige schwingende Fäden. Die Stringtheorie gilt als vielversprechender Ansatz, die Gravitation mit den Quantenfeldtheorien der Elementarteilchen zu vereinheitlichen: ein Problem, an dem sich bereits Albert Einstein die Zähne ausbiss.
Nach den meisten Hypothesen werden die Extradimensionen ausschließlich von der Schwerkraft wahrgenommen, was der Grund dafür ist, dass sie uns – verglichen mit den anderen Kräften – als relativ schwach erscheint. Es gibt viele Möglichkeiten, wie sich zusätzliche Dimensionen in den Experimenten am LHC zeigen könnten. In den meisten Szenarien verschwindet einfach eine gewisse Menge an Energie oder Impuls. In anderen führen Extradimensionen zu Anregungen gewisser Teilchen.
Bei den sehr großen Energiedichten, die der LHC in der Lage ist zu produzieren, könnte die Gravitation zudem plötzlich sehr viel stärker werden. Gelänge es dem LHC beispielsweise, mikroskopisch kleine Schwarze Löcher zu produzieren, wäre das eventuell ein erster Hinweis auf die Stringtheorie. Angst müsse man vor den kleinen Materieschluckern jedoch nicht haben, versichern die Teilchenphysiker. Sie wären sehr instabil und zerfielen außerordentlich rasch.
Wunsch und Wirklichkeit
Doch falls die Experimentatoren nicht bald erste Anzeichen einer neuen Physik finden, wird die experimentelle Teilchenphysik wohl zum Auslaufmodell. Dann wird es dem CERN schwer fallen, das Geld für die geplante Modernisierung der Beschleuniger aufzutreiben. Insbesondere die Kette der Vorbeschleuniger ist in die Jahre gekommen und müsste dringend auf Vordermann gebracht werden. Selbst der LHC leidet unter konstruktiven Unzulänglichkeiten. Denn er ist derzeit noch nicht einmal in der Lage, seine vorgegebenen Designwerte zu erzielen. Das betrifft sowohl die Energie der Teilchen, die bei 3,5 TeV statt bei den geplanten 7 TeV pro Proton liegt, sowie die Kollisionsrate, die momentan noch um etwa einen Faktor 50 unter dem Soll liegt.
Sollten sich dagegen erste Anzeichen einer neuen Physik zeigen, könnte ein anderes Problem auf die Beschleunigerzentren zukommen: Weil die Anlagen immer komplexer und teurer werden, bleiben die Experimentiereinrichtungen aller Voraussicht nach stets Unikate – so wie der LHC bereits jetzt eines ist. Es wird sicherlich nicht leichter werden, andere Nationen davon zu überzeugen, gewaltige Geldsummen aufzubringen, um irgendwo auf der Welt ein Institut aufzubauen, von dem man nur noch indirekt profitiert. Die besten Köpfe müssen dafür sogar das eigene Land verlassen – zumindest für eine Zeit lang –, um an einem fernen Ort zu forschen. Ob Staaten künftig bereit sind, dafür Millionen hinzublättern, steht in den Sternen.
Auf der Wunschliste der Teilchenphysiker steht aber noch ein dreißig bis fünfzig Kilometer langer Linearbeschleuniger, in dem Elektron und deren Antimaterie – Positronen – für Präzisionsmessungen aufeinander geschossen werden sollen. Wo der Beschleuniger dann arbeiten soll, mit welcher Technik und bei welcher Energie, hängt stark von den Ergebnissen ab, die der LHC liefert. Zudem denkt das CERN für weitere Präzisionsmessungen über so etwas wie einen Super-HERA-Beschleuniger nach, der hochenergetische Elektronen auf gegenläufige Protonen schießen soll, so wie HERA damals in Hamburg. Doch zunächst müssen die Physiker am CERN Aufsehen erregende Entdeckungen vorlegen. Sonst könnten ihre Träume schnell platzen.
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