Direkt zum Inhalt

Der Mathematische Monatskalender: Abu Bakr al-Karaji (953–1029)

Al-Karaji fand Formeln für die Umformung von Potenzen und Wurzelausdrücken und führte erste Induktionsbeweise, allerdings ohne das Prinzip explizit zu benennen.
Abu Bakr al-Karaji

Über den Mathematiker Abu Bakr Ibn Muhammad Ibn Alhusayn al-Karaji wissen wir nur, dass er viele Jahre seines Lebens in Bagdad verbracht hat. Ob er aus Bagdad selbst stammt (einer der Vororte heißt Karkh) oder aus der Stadt Karaj im Iran, kann nicht mehr geklärt werden.

Nur wenige Werke al-Karajis sind erhalten, darunter eine arithmetische Schrift mit Rechenaufgaben aus dem Alltag sowie eine Anleitung für Staatsbeamte, darüber hinaus die aus zwei Teilen bestehende Schrift al-Fakhri fi l-gabr wal-muqabala (Wunderbares über Arithmetik), die er seinem Herrscher widmet, dem Wesir al-Fakhri.

Während der erste Teil überwiegend Aufgaben enthält, die man auch bei Diophant und Abu Kamil (850 – 930) findet, wird der zweite Teil des Werkes von der Nachwelt als erste wirklich algebraische Schrift bewertet.

Bereits Abu Kamil hatte in einem Kommentar zu al-KhwarizmisAl Kitab al-muhtasar fi hisab al-gabr w-al- muqabala entscheidende Schritte hin zu einer abstrakten Algebra vollzogen, indem er Regeln für Produkte von Summentermen aufstellte und erläuterte, wie Wurzelterme umgeformt werden können, zum Beispiel: \( \sqrt{a \cdot b} = \sqrt{a} \cdot \sqrt{b}\) und \( \sqrt{a : b} = \sqrt{a} : \sqrt{b}\) oder auch \( \sqrt{a} \pm \sqrt{b} = \sqrt{a + b \pm 2 \sqrt{a \cdot b}}\).

Al-Karaji setzt dies fort, indem er Potenzen mit beliebigen natürlichen Exponenten definiert und auch das Rechnen mit den Kehrwerten der Potenzen erklärt. Allerdings fehlt bei ihm noch der Spezialfall des ersten Potenzgesetzes \(x^m \cdot x^{-m} = x^0\) und damit die Definition \(x^0 = 1\).

Leider ist eine wichtige, wohl noch bedeutendere Schrift al-Karajis verloren gegangen. Dass eine solche Schrift existierte, wissen wir von einem Mathematiker, der 100 Jahre nach dem Tod von al-Karaji geboren wird und bereits in frühen Jahren ein Werk verfasst, in dem er sich mit der Abhandlung al-Karajis auseinandersetzt: Ibn Yahya al-Magrhibi al-Samaw'al (1130 – 1180), der vierte bedeutende Algebraiker des islamischen Kulturkreises nach al-Khwarizmi, Abu Kamil und al-Karaji.

Al-Samaw'als Vater, ein jüdischer Religions- und Sprachgelehrter, war um das Jahr 1130 aus Marokko nach Bagdad eingewandert. Sein Sohn erweist sich als wissbegierig und gelehrig, und bald hat er die Mathematik-Kenntnisse seiner Lehrer erreicht. Da er in Bagdad niemanden findet, der ihm die Elemente des Euklid erklären kann, arbeitet er dieses Werk sowie die Schriften von Abu Kamil und al-Karaji selbstständig durch. Im Alter von 19 Jahren verfasst er al-Bahir fi’l-jabr (Das leuchtende Buch über das Rechnen), in dem er häufig die oben angegebene verloren gegangene Abhandlung al-Karajis zitiert, so dass nicht immer klar ist, welche Teile des Werkes eigentlich von wem stammen; an einigen Stellen allerdings verweist al-Samaw'al deutlich darauf, welche Fortschritte ihm im Vergleich zu seinem großen Vorbild al-Karaji gelungen sind.

Bei al-Samaw'al findet man die folgende Tabelle zur Begründung der Potenzregeln; vermutlich ist al-Karaji genauso vorgegangen. In den Spaltenköpfen sind die Exponenten gemäß der heutigen Schreibweise notiert, darunter die Potenzen in der damals üblichen verbalen Form. Betrachtet wird eine beliebige positive Zahl, in der wörtlichen Übersetzung als "Ding" bezeichnet (von den deutschen Mathematikern des 15. Jahrhunderts mit dem Wort coß). Um höhere Exponenten anzugeben, werden die ersten Potenzen sprachlich miteinander verknüpft: Das arabische Wort māl steht für das Quadrat einer Zahl, ka’b für die 3. Potenz, dann wird die 4. Potenz mit māl māl beschrieben, die 5. Potenz mit māl ka’b, die 6. Potenz mit ka’b ka’b usw. Für die Kehrwerte der Potenzen wird das arabische Wort für Teil vorangestellt. Die dritte Zeile der Tabelle zeigt am Beispiel, wie die Potenzen der Zahl 2 notiert werden (bei den Brüchen teilweise nur in Produktform üblich):

Für die Exponenten verwenden al-Karaji und al-Samaw'al den Begriff der Ordnung; hiermit erläutern sie das 1. Potenzgesetz \(x^m \cdot x^n = x^{m+n}\) wie folgt:

Der Abstand der Ordnung des Produkts der beiden Faktoren von der Ordnung eines der beiden Faktoren ist gleich dem Abstand der Ordnung des anderen Faktors von der Einheit. Liegen die Faktoren in unterschiedlichen Richtungen, dann zählen wir [den Abstand] der Ordnung des ersten Faktors in Richtung auf die Einheit, wenn sie aber in der gleichen Richtung liegen, zählen wir in die andere Richtung, von der Einheit weg (zitiert nach L. Berggren).

Aus heutiger Sicht mag eine solche Beschreibung des Potenzgesetzes primitiv erscheinen; es stellt jedoch einen bedeutsamen Abstraktionsschritt in der Entwicklung der Algebra dar. Man bedenke auch die Schwierigkeiten, die mit der Einführung negativer Zahlen und der Anwendung der Vorzeichenregeln verbunden waren. Bei al-Karaji heißt es:

Multipliziert man eine negative Zahl (Deutung als Fehlbetrag) mit einer positiven Zahl (Deutung als Überschuss), dann ist das Ergebnis eine negative Zahl, multipliziert man eine negative Zahl mit einer negativen Zahl, dann ist das Ergebnis eine positive Zahl.

Und weiter: Subtrahiert man eine positive Zahl von null, dann bleibt dieselbe negative Zahl (gemeint ist: \(0 – a = -a\) ). Subtrahiert man eine negative Zahl von null, dann bleibt dieselbe positive Zahl (gemeint ist: \(0 – (-a) = a\) ).

In der oben angegebenen verloren gegangenen Schrift des al-Karaji muss auch ein Schema enthalten gewesen sein, aus dem man die Koeffizienten für die Potenzen von \(a\), \(b\) ablesen kann, die sich beim Ausrechnen der Summenpotenzen \((a + b)^3\), \((a – b)^3\), \((a + b)^4\) und so weiter ergeben – viele Jahrhunderte vor Pascals triangle arithmétique.

Das Additionsprinzip für die Koeffizienten begründet er mithilfe der Rechenregeln für Polynome. Die Vorgehensweise bei der Herleitung ist erstaunlich modern: Den Fall \(n = 3\) führt er auf die Einsichten bei \(n = 2\) zurück, den Fall \(n = 4\) auf \(n = 3\) und so weiter, allerdings ohne diese unvollständige Induktion ausdrücklich als ein Beweisprinzip herauszustellen.

Auch hinsichtlich eines Beweises der Summenformeln für Potenzen natürlicher Zahlen geht al-Karaji über seine Vorgänger hinaus. Dass man die Summe \(1 + 2 + ... + n\) direkt mithilfe des halben Produkts des größten Summanden \(n\) und der nachfolgenden Zahl \(n+1\), also mithilfe von \(\frac{1}{2}\cdot n \cdot (n+1)\) berechnen kann, war bereits den Pythagoreern bekannt. Und bei indischen Mathematikern des 5. Jahrhunderts findet man \(1^3 + 2^3 + ... + n^3 = (1 + 2 + ... + n)^2\), allerdings ohne Beweis, sondern wie es in diesem Kulturkreis üblich war: Den Zusammenhang erkennt man durch Hinsehen:

Al-Karaji führt den formalen Beweis der Formel für die Summe der Kubikzahlen wieder nach der induktiven Methode. Zunächst stellt er fest, dass gilt:

\( \big[(1 + 2 + 3 + 4 )+ 5 \big]^2 = (1 + 2 + 3 + 4)^2 + 2 \cdot (1 + 2 + 3 + 4) \cdot 5 + 5^2\)

Nach Ersetzen von \((1 + 2 + 3 + 4)\) durch \( (\frac{1}{2} \cdot 4 \cdot 5)\) ergibt sich hieraus:

\( (1 + 2 + 3 + 4 + 5)^2 = (1 + 2 + 3 + 4)^2 + 4 \cdot 5^2 + 1 \cdot 5^2\), also:

\( (1 + 2 + 3 + 4 + 5)^2=(1 + 2 + 3 + 4)^2 + 5^3\).

Da dieser Zusammenhang auch für Teilsummen gezeigt werden kann, folgt schrittweise:

\( (1 + 2 + 3 + 4 + 5)^2 = (1 + 2 + 3 + 4)^2 + 5^3 \) \(= (1+2+3)^2 + 4^3 + 5^3 = (1+2)^2 + 3^3 + 4^3 + 5^3\) \(= 1^2 + 2^3 + 3^3 + 4^3 + 5^3\) \( = 1^3 + 2^3 + 3^3 + 4^3 + 5^3\)

Wie oben erwähnt, setzt sich al-Karaji intensiv mit der Arithmetica des Diophant auseinander, greift viele von dessen Aufgaben auf und verallgemeinert sie; vor allem aber überprüft er, inwieweit sich die trickreichen Ansätze des Diophant verallgemeinern lassen. Beispielsweise macht er zur Lösung der Gleichung \(x^3 + y^3 = u^2\), also der Frage, welche Summen von Kubikzahlen Quadratzahlen sind, den Ansatz \(y = m \cdot x\) und \(u = n\cdot x\) mit \(m, n \in \mathbb{Q}\), der dann zu einer Parameterdarstellung der Lösungstripel führt:

\( x= \frac{n^2}{1+m^3}, \hspace{0.5cm} y= \frac{m\cdot n^2}{1+m^3}, \hspace{0.5cm} u= \frac{n^3}{1+m^3} \)

Während al-Karaji "nur" in der Lage ist, Polynome durch Monome zu dividieren, bewältigt al-Samaw'al sogar das Problem der Division beliebiger Polynome. Die Terme der Division \( (20x^2 + 30x) : (6x^2 + 12)\) notiert er in Tabellenform; dabei stehen die Koeffizienten von Dividend (Zeile 1a) und Divisor (Zeile 1b) untereinander (wobei man Nullen bei nicht vorhandenen Potenzen ergänzt). In Zeile 0 werden die Zwischenergebnisse der Division fortlaufend eingetragen.

Das Ergebnis \(3\frac{1}{3}\) der Division der höchsten Potenzen, also von \(20x^2: 6x^2\), wird in Zeile 0 eingetragen, dann das \(3\frac{1}{3}\)-fache der Zeile 1b von Zeile 1a subtrahiert und in Zeile 2a notiert. Dieser Vorgang wird nun mit dem um eine Ordnung verschobenen Divisor nach der Art der indischen Arithmetik wiederholt, das Ergebnis \(5\) der Division von \(30x : 6x\) in das nächste Feld von Zeile 0 eingetragen und so weiter.

An der Tabelle kann man sogar ohne weitere Rechnung ablesen, welche Koeffizienten sich in den nächsten Schritten ergeben. Somit ergibt sich – wie al-Samaw'al schreibt – als ungefähre Lösung:

\(\begin{split} (20x^2+30x):(6x^2+12) \approx &3 \frac{1}{3} + 5x^{-1} – 6\frac{2}{3} x^{-2}-10x^{-3} \\ &+13\frac{1}{3}x^{-4}+20x^{-5}-26\frac{2}{3}x^{-6}-40x^{-7} \end{split} \)

In einem weiteren Punkt übertrifft al-Samaw'al sein Vorbild al-Karaji: Ihm gelingt es, nicht nur Nenner von Brüchen mit zwei Wurzeln als Summanden rational zu machen, sondern sogar solche mit drei Wurzeln:

\[ \frac{\sqrt{30}}{\sqrt{2}+\sqrt{5}+\sqrt{6}}= \frac{-20\sqrt{2}+2\sqrt{5+5\sqrt{6}+6\sqrt{15}}}{13}\]

Im letzten Kapitel seines Werks al-Bahir fi’l-jabr beschäftigt sich al-Samaw'al mit einer kombinatorischen Fragestellung: Gesucht sind 10 unbekannte Größen; gegeben ist die Summe von jeweils 6 dieser Größen. Er erkennt, dass es auf 210 Arten möglich ist, Summen mit 6 Variablen zu bilden. Also können 210 verschiedene Gleichungen aufgestellt werden; die Auswahl der 10 Gleichungen für ein zu lösendes Gleichungssystem ist jedoch nicht beliebig.

Der Universalgelehrte al-Samaw'al verfasst über 85 Schriften zu unterschiedlichen Themen. Er bereist zahlreiche Länder der islamischen Welt; seinen Lebensunterhalt verdient er sich erfolgreich als Arzt. In einem Buch über die Irrtümer der Astrologen argumentiert er, dass ein Astrologe für jede Person 6817 Variablen beachten müsse, um eine sinnvolle Prognose über deren Schicksal erstellen zu können, was nicht zu leisten sei. Auch setzt er sich mit der Frage nach der wahren Religion auseinander, was ihn schließlich dazu bringt, zum Islam zu konvertieren (wobei er lange versucht, dies gegenüber seinem Vater zu verschweigen).

Von al-Karaji heißt es, dass er sich irgendwann entschließt, von Bagdad aus in die Berge zu gehen, um sich dort vor allem der Frage zu widmen, wie man unterirdische Wasservorräte nutzen und die Wasserbewirtschaftung der Felder verbessern kann.

Abu Bakr al-Karaji (953 – 1029)

Datei herunterladen
PDF (526.9 KB)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.