Zeit: Was unterscheidet »astronomische« und »physikalische« Zeit?
(Richard Wilhelm, Todtnau)
Vor dem 20. Jahrhundert war Zeit etwas Gegebenes, etwas Absolutes, über das sich höchstens Philosophen wirklich Gedanken machten. Für die Messung kurzer Zeitintervalle ließ man Sandkörner rieseln und zählte in der Antike zum Beispiel fallende Wassertropfen beziehungsweise in der Neuzeit die Schwingungen von Uhrpendeln. Für lange Zeitintervalle zählte man die Umdrehungen der Erde.
Dies erlaubte es Isaac Newton gegen Ende des 17. Jahrhunderts, die Bewegungen der Himmelskörper, das heißt ihre Örter im Raum als Funktion der Zeit, physikalisch zu erklären. Nur sieben Jahre nach Newtons epochalem Werk fiel Edmond Halley etwas auf, das zu dessen Theorie nicht so recht passte: Der Umlauf des Mondes um die Erde schien sich im Laufe von zwei Jahrtausenden sehr wenig, aber sehr deutlich beschleunigt zu haben. Es dauerte dann zwei Jahrhunderte, bis – nach diversen falschen Erklärungen – klar wurde, dass dieser Effekt in Wahrheit auf einer Verlangsamung der Erdrotation, also der astronomischen Zeitrechnung beruhte.
Damit war der Unterschied zwischen einer astronomischen und einer irdischen Zeit entstanden. Und für die Messung langer Zeitintervalle war die astronomische die genauere! Als wahre physikalische Zeit galt deshalb fortan nicht mehr die irdische aus dem täglichen Lauf der Sonne, sondern die astronomische aus dem Mond- und Planetenlauf. Man nannte sie Ephemeridenzeit. Erst ein weiteres Jahrhundert später, in den 1970er Jahren, wurden Atomuhren erfunden, die auch über lange Intervalle genauer waren als die Beobachtungen an Mond und Planeten. Folglich wurde ab 1976 die Atomzeit, also eine irdische Laborzeit, wieder als die wahre physikalische Zeit festgesetzt. Die konnte man logischerweise nicht rückwirkend für die Vergangenheit bestimmen, so dass für frühere Epochen die Ephemeridenzeit auch weiterhin als die beste gilt.
Sollten sich also ab 1976 die Planeten bitte schön gemäß der neuen, physikalischen Atomzeit bewegen? Nein, denn da war inzwischen die Relativitätstheorie in die Quere gekommen! Zeit ist nicht mehr absolut: Nach Einsteins Theorie laufen all die wunderbaren Atomuhren unvermeidbar ungleichmäßig, zum Beispiel alle im Januar langsamer als im Juli – weil sie dann der Sonne näher sind – und in Brasilien stets langsamer als in Schweden – weil sie wegen der Äquatornähe schneller um die Erde sausen. Diese Effekte sind real nachgewiesen und theoretisch exakt berechenbar. Unter ihrer Berücksichtigung haben sich die Astronomen deshalb 1991 aus der Atomzeit eine neue theoretische Zeitskala gebastelt, in welcher die Planetenbewegung exakt beschrieben werden kann. Sie heißt baryzentrische Koordinatenzeit. Die Einzelheiten würden hier zu weit führen.
Und ja, nach Korrektur der bekannten relativistischen Effekte soll die so definierte »astronomische« Uhr mit den irdischen Atomuhren exakt übereinstimmen. An diese Erwartung haben sich die Planeten bisher perfekt gehalten, und es wird auch künftig nicht mit Abweichungen gerechnet.
(Richard Wilhelm, Todtnau)
Das sind zwei sehr tiefsinnige und spezielle Fragen. Auf die erste gibt es keine eindeutige Antwort. Dazu die folgende Grobrechnung: Die Planetenpositionen sind auf etwa 200 Meter genau bekannt; ihre Geschwindigkeiten liegen bei 20 Kilometer pro Sekunde, Zeitabweichungen könnten folglich erst bei etwa 200 m/(20 km/s) = 0,01 s auffallen. Über zum Beispiel 30 Jahre, also 109 Sekunden, wäre also astronomisch ein relativer Zeitfehler größer als 10−11 feststellbar. Dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Das wäre aber auch eine große überraschung, da wir sicher sind, dass derzeit die Genauigkeit sowohl der Atomuhren (etwa 10−14) als auch der relativistischen Modellierung der Zeit weit besser als dieser Wert von 10−11 ist.
Zur zweiten Frage: Einerseits werden selbstverständlich die Massen und Bahnen aller relevanten Körper immer wieder (alle paar Jahre) neu so festgelegt, dass alles schön mit sämtlichen verfügbaren Positions- und Abstandsmessungen zusammenpasst. Andererseits ist die relativistische Mechanik ein ebenso enges Korsett für jegliche Modellierung wie es die newtonsche Mechanik zuvor war, mit deren Hilfe man ja die Unregelmäßigkeiten einer auf der Erdrotation basierenden Zeitrechnung erkannt hat.
Es bleibt also weiterhin möglich, dass echte Diskrepanzen gefunden werden. Diese könnten auf zusätzliche Körper analog zur Neptunentdeckung 1846 hinweisen (Planet X weit draußen im Sonnensystem? ein stilles Schwarzes Loch, nur ein Lichtjahr von der Sonne entfernt? …) oder auf ganz neue Physik analog zur allgemeinen Relativitätstheorie 1915 bei der damals diskrepanten Merkurperihel-Präzession (Quantengravitation? zeitliche Änderung von Naturkonstanten? …) oder aber auch auf übersehene bekannte Physik analog zur Abbremsung der Erdrotation durch den Mond im 18. Jahrhundert.
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