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Persönlichkeit: Nimmt Narzissmus zu?

Viele Menschen inszenieren sich heute online und dürsten nach Likes. Unsere Kultur werde tatsächlich narzisstischer, meint ein Experte. Heißt das, es gibt jetzt mehr Narzissten als früher?
Junger Narzisst mit Sonnenbrille, offenem Blazer und vielen Goldketten auf nackter Brust, lungert arrogant schauend auf einem thronähnlichen Stuhl mit beleuchteter Lehne.
Hochnarzisstische Menschen halten sich für überlegen und erwarten stets eine Sonderbehandlung.

Inszenierte Posen, bearbeitete Selfies und das perfekte Leben – die sozialen Medien offenbaren den Hang zur Selbstdarstellung vieler Menschen. Vor allem die junge Generation scheint geradezu besessen vom Streben nach Bewunderung. Völlig klar: Narzissmus nimmt auf alarmierende Weise zu! Oder etwa nicht?

Das auf den ersten Blick offensichtlich Erscheinende ist wissenschaftlich keineswegs belegt. In einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung fand ein Team um Jakob Pietschnig keine Hinweise auf eine »Narzissmus-Epidemie«. Im Gegenteil: Global gesehen hat die Ichbezogenheit zwischen 1982 und 2023 unterm Strich sogar leicht abgenommen. Die Forschenden von der Universität Wien hatten in einer Metaanalyse die Ergebnisse von rund 1100 Studien erneut ausgewertet, in denen Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft bei insgesamt über einer halben Million Menschen untersucht worden war. Das Messinstrument war in allen Studien ein Fragebogen, der die Arroganz, das Überlegenheitsgefühl, den Autoritätsanspruch, die Erwartungshaltung sowie den Hang zu Angeberei und Manipulation der Untersuchten erfasste.

Der Mythos von der Narzissmus-Epidemie geht vornehmlich auf eine gut 15 Jahre alte Publikation zurück, die einen Anstieg narzisstischer Tendenzen bei Studierenden in den USA verzeichnete und in Publikumsmedien viel Anklang fand, methodisch jedoch schon damals von mir und anderen Fachleuten kritisiert wurde. Ähnliche Studien konnten das Ergebnis nicht bestätigen. Die Metaanalyse von Jakob Pietschnigs Forschungsteam offenbarte zwar höhere Narzissmuswerte bei Menschen in Nordamerika verglichen mit Menschen in anderen Regionen der Welt. Doch auch dort war Narzissmus in den letzten Jahrzehnten leicht rückläufig.

Sollten wir nun eher dem Eindruck trauen, der sich uns beim Scrollen durch Timelines, Stories und Reels offenbart? Oder dieser wissenschaftlichen Studie? Die Antwort lautet: sowohl als auch.

Mehr Likes für Selbstdarsteller

Im Alltagsverständnis gilt als Narzisst, wer sich selbstverliebt und egoistisch verhält. Personen mit derartigen Eigenschaften haben mit Instagram & Co. in den vergangenen Dekaden eine äußerst sichtbare Bühne bekommen. Die Kluft zwischen öffentlicher Wahrnehmung und Forschungsresultaten beruht größtenteils auf der so genannten Verfügbarkeitsverzerrung, einem typischen Denkfehler. Demnach basiert unsere Einschätzung, wie verbreitet ein Phänomen ist, vor allem auf unserer direkten Wahrnehmung: Ein vergleichsweise geringer Anteil an Menschen mit Hang zum Narzissmus erfährt im Fernsehen und in anderen Medien übermäßig viel Aufmerksamkeit. Es entsteht der Eindruck, als lebten wir in einer Gesellschaft ichbezogener Egomanen. Diese gab es früher jedoch auch. Sie hatten nur weniger Gelegenheit, ihre Tendenzen zur Schau zu stellen. Wissenschaftliche Studien hingegen beruhen auf der Befragung einer breiten Masse, die nicht im Rampenlicht steht.

Diese Art der verzerrten Wahrnehmung sieht man auch am Beispiel von Flugzeugabstürzen: Die Nachricht von einem einzelnen Absturz verbreitet sich so weit, dass sie bei zahlreichen Menschen Angst vorm Fliegen auslöst, obgleich die Statistik eigentlich zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit für solche Unglücke äußerst gering und Autofahren weit gefährlicher ist.

Narzissmus nimmt also in der Allgemeinbevölkerung nicht zu – allerdings wird unsere Kultur narzisstischer, etwa wenn Selbstdarstellung und Erfolgsstreben mit Likes belohnt werden. Wie sich das langfristig auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen auswirkt, ist unklar. Denkbar wäre, dass das Anspruchsdenken zunimmt, etwa in Form von überhöhten Erwartungen an sich selbst und andere, was zu Frustration und Enttäuschung führen kann. Klar trennen muss man zwischen punktuell narzisstischem Gebaren – etwa in den sozialen Medien – und dem Verhalten in anderen Lebensbereichen. So kann man sich in gewissen Situationen narzisstisch geben, ohne dass es sich gleich um eine grundsätzliche Persönlichkeitseigenschaft handelt.

Von Übermut zu Demut

Den Vorwurf an die jeweils jüngere Generation, sie verhalte sich deutlich selbstbezogener, gibt es übrigens nicht erst seit dem Zeitalter moderner Medien. Tatsächlich sind narzisstische Eigenschaften bei jungen Menschen generell ausgeprägter und nehmen im Lauf des Lebens ganz von allein ab. Ein Satz bringt es auf den Punkt: Man beginnt mit Übermut und endet in Demut.

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  • Quellen

Oberleitner, S. et al.: A farewell to the narcissistic epidemic? A cross-temporal meta-analysis of global NPI scores (1982–2023). Journal of Personality 10.1111/jopy.12982, 2024

Orth, U. et al.: Development of narcissism across the life span: A meta-analytic review of longitudinal studies. Psychological Bulletin 150, 2024

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