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Zufriedenheit: Ist ein starkes Selbstwertgefühl von Vorteil?

Ein Steckenpferd vieler Laienpsychologen ist das Selbstwertgefühl. Es aktiv steigern zu wollen, birgt allerdings auch Risiken.
Streng blickender Mann im seriösen Anzug mit Krawatte vor dunklem Hintergrund
Fördert ein starkes Ego den Erfolg im Leben? Vermutlich ist es eher umgekehrt.

Sie sind super! Kompetent, gut aussehend, ein Vorbild für andere … Schön, wenn Sie das selbst so sehen – nur, hilft Ihnen diese Überzeugung im Alltag weiter? Das Selbstwertgefühl nimmt breiten Raum in zahlreichen Therapie- und Coaching-Ansätzen ein und ist vor allem ein Steckenpferd vieler Laienpsychologen. Aber wie sinnvoll ist es wirklich, sein Selbstwertgefühl aktiv steigern zu wollen?

1986 richtete der kalifornische Senatsabgeordnete John Vasconcellos eine Taskforce ein, die sich mit dem Selbstwertgefühl insbesondere von Jugendlichen befasste. Der demokratische Politiker träumte von einer »sozialen Impfung« gegen unterschiedliche Probleme wie Drogen- und Alkoholsucht, Kriminalität, häusliche Gewalt, Teenagerschwangerschaften, Schulversagen und so weiter. Das meiste davon führte er auf ein zu geringes Selbstwertgefühl der Betreffenden zurück.

Große Pläne, kleine Wirkung

Es zu steigern, wurde folglich zum Ziel von Präventionsprogrammen erhoben, in die mehrere Millionen Dollar flossen. 1990 erschien ein Zwischenbericht – und wurde prompt zum Bestseller. Allerdings: Kein einziger sozialer Indikator verbesserte sich in den folgenden 20 Jahren: Das Selbstwertgefühl der Jugendlichen, die die Programme absolviert hatten, zeigte zwar einen leichten Aufwärtstrend, ihr problematisches Verhalten reduzierte sich jedoch nicht.

Der Misserfolg löste angesichts der hohen Kosten heftige Kritik aus. Der Neurowissenschaftler David Shannahoff-Khalsa etwa kommentierte: »Es ist nicht erwiesen, dass das Selbstwertgefühl eine ursächliche Rolle bei den adressierten gesellschaftlichen Problemen spielt.«

Eine Übersichtsstudie des Sozialpsychologen Roy Baumeister und einiger Kollegen kam 2003 zu einem gemischten Ergebnis. Ein starkes Selbstwertgefühl geht demnach zwar subjektiv mit höherer Lebenszufriedenheit einher, sagt aber weder gute Schulnoten noch Erfolg am Arbeitsplatz oder erfülltere Beziehungen vorher. Es bietet auch keinen Schutz vor Drogen, Alkohol und frühen Sexualkontakten. Fazit des Forschers: Hohes Selbstwertgefühl hat keine objektiv messbaren, gesellschaftlichen Folgen.

Doch diejenigen, die von den Vorteilen des Selbstwertgefühls überzeugt waren, ließen nicht locker, und so schwelte über Jahre eine wissenschaftliche Debatte. 2022 sichteten Ulrich Orth von der Universität Bern und Richard Robins von der University of California in Davis neuere, umfangreiche Daten zum Thema. Ihnen zufolge hat hohes Selbstwertgefühl einen positiven, wenn auch bescheidenen Effekt auf verschiedene Lebensparameter. Baumeister und seine Kollegen konterten: »Selbstwertgefühl bleibt weitgehend eine Sache der persönlichen Wahrnehmung. Objektive Auswirkungen sind je nach dem betrachteten Bereich sehr variabel.«

Bis heute gibt es keinen klaren Konsens in der Frage. Nicht nur ist das genaue Selbstwertgefühl einer Person in der Praxis schwer zu messen; vielmehr haben Versuche, es zu steigern, mitunter auch unerwünschte Nebenwirkungen: sei es ein gesteigertes Bedürfnis, bewundert zu werden, das Gefühl, anderen überlegen zu sein, oder ein Mangel an Einfühlungsvermögen – kurz, Facetten des Narzissmus.

Das Selbstwertgefühl stieg nach Trainings leicht an, das problematische Verhalten aber blieb

Der Psychologe Eddie Brummelman von der Universität Amsterdam wies zudem darauf hin, dass allzu viel elterliches Lob das Selbstwertgefühl ihrer Kinder paradoxerweise sogar mindern kann. Wenn man eine Person ständig überschwänglich für ihre an sich durchschnittlichen Leistungen lobt, fördert man damit unter Umständen nicht das Selbstwertgefühl, sondern eine verzerrte Selbstwahrnehmung und umso größere Enttäuschung, wenn etwas nicht wie erhofft klappt.

Vieles deutet darauf hin, dass ein starkes Selbstwertgefühl aus Erfolgserlebnissen entsteht, ihnen aber nicht zwangsläufig vorausgeht. Wenn wir also wollen, dass sich Schülerinnen und Schüler etwas zutrauen, müssen wir ihnen entsprechende Erfahrungen verschaffen: gute Lernbedingungen in kleinen Klassen, motivierte, gut ausgebildete Lehrkräfte, wirksame Lernmethoden. Ein starkes Selbstwertgefühl gewinnt man nicht durch Selbsthilfebücher, die einem erklären, wie toll man ist, sondern durch Erfolge. Also, an die Arbeit!

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  • Quellen

Baumeister, R.: Does high self-esteem cause better performance, interpersonal success, happiness, or healthier lifestyles? Psychological Science in der Public Interest 4, 2003

Brummelman, E. et al.: When parents’ raise inflates, children’s self-esteem deflates. Child Development 88, 2017

Orth, U., Robins, R.: Is high self-esteem beneficial? Revisiting a classical question. American Psychologist 77, 2022

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