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Warkus’ Welt: Das Privileg der Sprache

Ist die mündliche der schriftlichen Kommunikation überlegen?
Ausschnitt eines Bücherregals voller Bücher

Ist es nicht schade, dass viele Menschen heute so schlecht mit der Hand schreiben? Man kann schon wehmütig bei dem Kindergekrakel werden, mit dem manche Leute Formulare ausfüllen – weil sie sonst vom Einkaufszettel bis zur Liebesbotschaft alles auf ihrem Smartphone tippen. Geht da nicht etwas verloren?

Ich schreibe meinen Einkaufszettel immer noch per Hand, aber vielleicht muss auch ich mir etwas vorwerfen lassen. Geht nicht bei mir schon etwas verloren, vielleicht sogar etwas viel Wichtigeres? Durch diese Gedächtnisstütze verliere ich auf Dauer nämlich die Fähigkeit, mir zu merken, was ich eigentlich besorgen sollte. Hand aufs Herz: Wissen Sie noch irgendeine Telefonnummer außer ihrer eigenen? Ich kenne nur noch ein paar Nummern von Grundschulfreunden auswendig.

Wer schreibt und liest, schadet allerdings nicht nur seinem Gedächtnis. Lesen kann auch dazu führen, dass sich falsche Lesarten von Texten festsetzen. Wer sich von einer Aerodynamikerin beim Kaffee erklären lässt, warum ein Flugzeug fliegt, wird am Ende vermutlich nicht mit der falschen Vorstellung heimgehen, dass Luftmoleküle dafür über und unter dem Flügel in gleicher Zeit unterschiedliche Wegstrecken zurücklegen müssen. Wer ein Buch liest, kann durchaus auf diese Idee kommen, selbst dann, wenn darin eigentlich nichts Falsches steht. Einem Buch kann man keine Rückfragen stellen. Es kann einem nicht auf Nachfrage erklären, warum der Druckunterschied an einer Tragfläche nicht auf diese Weise zu begründen ist.

Und das ist noch ein harmloses Beispiel. Wäre es nicht besser, all die irreführenden Bücher gleich wegzulassen und Wissen einfach weiterzugeben, indem man sich vernünftig unterhält? Natürlich setzt dies voraus, dass alle Beteiligten richtig und verständlich reden können; dass sie genau wissen, was sie wissen, wann sie etwas zu sagen haben und wann sie besser die Klappe halten. Schreiben und Lesen wäre dann vielleicht noch ein nettes Privatvergnügen, aber im Vergleich zur ernsthaften Weitergabe des reflektierten Wissens im Dialog eine bloße Spielerei.

Wissen, wo etwas steht

Ungefähr diesen Gedanken führt Platon (etwa 428–348 v. Chr.) in seinem Dialog »Phaidros«, einem klassischen Werk der Schrift- und damit auch Kulturkritik aus. Es ist nicht schwierig, darin eine Grundformel zu erkennen, die sich seitdem immer wieder findet. In den 2000er Jahren wurde mit dem Aufkommen von Suchmaschinen viel die Hände darüber gerungen, dass »echtes Wissen« an Schule und Universität nun endgültig durch bloßes »Wissen, wo etwas steht« ersetzt würde. Heute geht die Sorge um, dass sich ein ernstes Gespräch, eine verbindliche Mitteilung und eine enge Freundschaft in einer lauwarmen Pfütze aus halb schriftlichen, halb mündlichen, halb ernsten, halb ironischen, halb freundschaftlichen, halb distanzierten Messenger-Nachrichten und Social-Media-Posts auflösen.

Aus seiner Auseinandersetzung mit Platon und vor allem dem Phänomenologen Edmund Husserl (1859–1938) hat Jacques Derrida (1930–2004), einer der bedeutendsten Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ganz verkürzt folgenden Gedanken gezogen: Seit mindestens der Antike besteht im europäischen Denken eine Vorstellung davon, dass es unter bestimmten Bedingungen im mündlichen Reden eine Art von unmittelbarer, voller Präsenz des Sinns gibt. Sie macht das Reden überlegen gegenüber anfälligen Arten des Bedeutens, bei denen eine Vermittlung, eine Verzögerung zwischen Absender und Empfänger eingeschaltet ist (zum Beispiel bei der schriftlichen Kommunikation).

Es kann sich jedoch lohnen, diese Vorstellung zu verwerfen und das Privileg der Sprache in Frage zu stellen; und mit ihm zugleich hergebrachte Systeme des Denkens auf den Prüfstand zu stellen, die vielleicht selbst schon reflektiert und kritisch scheinen, aber dennoch untergründig weiter von der Idee dieses oder eines ähnlichen Privilegs bestimmter Arten des Bedeutens geprägt sind. Eine solche Art kritisch zu denken, ist mit dem (gerade in letzter Zeit leider gerne missbrauchten) Ausdruck »Postmoderne« verbunden. Letztlich wird damit nur konsequent fortgesetzt, was Philosophie schon immer ausgemacht hat: Alles darf und soll hinterfragt werden – auch und vor allem das Hinterfragen selbst.

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