Lobes Digitalfabrik: Der virtuelle Placeboeffekt
Als vor zwei Jahren die Spiele-App Pokémon den Markt kam, wurde das Thema Augmented Reality einem breiteren Publikum bekannt. Millionen Menschen machten an entlegensten Orten Jagd auf virtuelle Monster, die als fiktionale Elemente auf einer virtuell angereicherten Realitätsebene im Smartphone-Display angezeigt wurden. Zwar hat der Hype um »Pokémon Go« inzwischen etwas nachgelassen. Doch die Anwendungsmöglichkeiten von erweiterter Realität sind nicht bloß auf die Spielewelt beschränkt. Die Nutzungsmöglichkeiten sind vielfältig. AR-Brillen können Ingenieuren helfen, technische Defekte in Maschinen zu identifizieren, Auszubildende schulen und Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung bei der Kommunikation unterstützen, wenn sie möchten.
Die Analysten der Beratungsfirma Digi Capital prognostizieren, dass das Marktvolumen für AR- und VR-Anwendungen bis 2021 auf bis zu 90 Milliarden Dollar anwachsen wird. Microsoft hat mit seiner HoloLens eine noch etwas klobige und schwere Mixed-Reality-Brille auf den Markt gebracht, Google reaktiviert seine verschmähte Datenbrille Glass für den Industriebereich, und auch Amazon tüftelt an einer Alexa-kompatiblen Datenbrille. Allein, die Technologie schafft auch neue Komplikationen und Verständnisschwierigkeiten.
Der VR-Pionier Jaron Lanier hat auf der Technologiekonferenz LiveWorx des IT-Unternehmens PTC in Boston ein interessantes Gedankenexperiment entwickelt: Angenommen in einer Firma wird eingebrochen und Teile des (versicherten) Inventars zerstört. Ein Roboter hatte zuvor das Bürogebäude kartiert und auf dieser Grundlage ein 3-D-Modell der Inneneinrichtung erstellt. Dann kommen der Gutachter einer Versicherung, die Polizei sowie das Management zusammen, um den Schaden bei einem Lokaltermin in Augenschein zu nehmen. Dabei gleichen sie den Istzustand mit der AR-Darstellung ihrer Datenbrille ab, welche den Status quo ante digital rekonstruiert. Die Parteien sehen jeweils aber eine ganz andere Vorgängerversion der Räumlichkeiten, weil eine private App die Raumdaten anders berechnet hat. Wo in der Version des Managements ein teures Möbelstück steht, ist in der Version des Versicherungsunternehmens eine Leerstelle. Nun steht man vor einem Problem: Welche Version beziehungsweise Wirklichkeit gilt nun?
Das ist keine theoretische Fingerübung, sondern von höchst praktischer Relevanz, weil sich danach die Schadenshöhe richtet. Wie in einer Zeugenvernehmung Aussage gegen Aussage stehen hier Daten gegen Daten, die jedoch für sich Objektivität beanspruchen. Noch lässt sich in der physischen Realität anders als in der Virtualität die Vorgängerversion nicht in einem Mausklick wiederherstellen, so dass die Objekte wieder in Reih und Glied stehen. Womöglich sind Fake News nur ein Vorgeschmack dessen, was sich im Medium der erweiterten Realität an Falschinformationen auftun könnte.
Lanier ist einer der Urväter der Mixed Reality. Ursprünglich erträumte er virtuelle Welten, um den Verlust seiner verstorbenen Mutter zu kompensieren und eine Ersatzwirklichkeit zu schaffen. Er kann die Potenziale und Risiken recht gut abschätzen. Der Internetkritiker warnt vor den Privatsphäreproblemen smarter Brillen, die nicht nur Objekte, sondern auch Personen »augmentieren«, das heißt Zusatzinformationen einblenden können: Alter, Religion, Familienstand, Krankheiten. »Hat gerade Bier getrunken und ist seit zwei Wochen Single.« Die Idee einer »datenbasierten Anmache« an Bars findet er »super creepy«, super gruselig. Das Problem ist, dass man mit der Ubiquität der Internettechnologie bestimmte Informationen nicht mehr kommunikativ verbergen kann, sondern diese technisch wie ein Hologramm über Personen gelegt werden können, als würde man per Maus über ein Objekt fahren.
Lanier, der gerade mit seinem Buch »Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst« in den Schlagzeilen steht, fordert ein umgekehrtes Paradigma: Man dürfe andere Menschen nicht einfach erweitern, um sich einen Informationsvorsprung zu verschaffen. Das Einblenden zusätzlicher Informationen müsse einer Einverständniserklärung der betroffenen Person unterliegen. Das mag in der Praxis schwierig umsetzbar sein, ist aber eine wichtige ethische Diskussionsgrundlage. Der Mensch ist kein Objekt, dessen Daten man wie eine Produktinformation abrufen kann.
Wie bei jeder Technologie gibt es aber auch Chancen. Lanier hat in seinem Buch »Dawn of the New Everything: Encounters with Reality and Virtual Reality« ein Konzept vorgestellt, Schmerzpatienten mit Hilfe von Augmented Reality zu therapieren. Die Idee: Patienten mit chronischen Schmerzen setzen sich eine AR-Brille auf und zeichnen ein virtuelles Tattoo in der Gegend, wo der Schmerz ist, und interagieren mit anderen Leuten in erweiterter Realität, so dass die Hologramme sozial anerkannt sind. Ein Therapeut lässt das Tattoo dann auf dem Weg der Programmierung graduell verschwinden. Der Trick: Durch das schrittweise Entfernen des Hologramms schafft man die Illusion, dass auch der Schmerz verschwindet. Eine Art virtueller Placeboeffekt. Die Idee stammt ursprünglich von einer Mitarbeiterin in Laniers Labor, die 2015 eine avatarbasierte Schmerztherapie-App entwickelt hat. Lanier sagte in Boston, dass er in ersten Versuchen Erfolge mit Patienten erzielt habe. Inwieweit das Versuchsdesign replizierbar und für klinische Studien geeignet ist, ist unklar. In jedem Fall besitzt die Technologie großes Potenzial für den Einsatz im Gesundheitswesen.
Der Autor besuchte die Konferenz auf Einladung von PTC.
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