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Freistetters Formelwelt: Die beste Ausrede für den verlorenen Sprint

Wer schnell laufen will, muss gut trainieren. Aber ohne die nötige Mathematik holt man unter Umständen nicht mal eine Schildkröte ein.
Schildkröte

Das Jahr 2019 habe ich mit einem Silvesterlauf abgeschlossen – und musste währenddessen an Mathematik denken. Fast die gesamte Zeit war ein Läufer vor mir, der sich nicht einholen lassen wollte. Jedes Mal, wenn ich ein wenig aufgeschlossen hatte, erhöhte er das Tempo und ließ den Abstand zu mir wieder größer werden. Ich hab mich ein wenig wie Achilles in der Geschichte des griechischen Philosophen Zenon von Elea gefühlt.

Im 5. Jahrhundert vor Christus stellte dieser einige Paradoxien auf, die sich mit der Bewegung beschäftigten. Am bekanntesten ist die des Wettlaufs zwischen Achilles und der Schildkröte. Der Held aus dem trojanischen Krieg sollte sich in einem Rennen mit einer Schildkröte messen. Da diese Konstellation etwas unfair ist, bekam die Schildkröte einen Vorsprung. Die Frage lautet nun: Wann holt Achilles das Reptil ein?

Mathematisch gesehen stellt sich der Wettkampf so dar: Die Schildkröte bewegt sich mit einer Geschwindigkeit v1, die geringer ist als die Geschwindigkeit v2, mit der Achilles unterwegs ist. Ist der Rückstand des Helden beim Start gleich der Strecke s, dann braucht er die Zeit t1 = s / v2, um aufzuholen. In dieser Zeit hat die Schildkröte aber eine Strecke zurückgelegt, die sich aus v1 mal t1 berechnet. Um das aufzuholen, braucht Achilles nun die Zeit t2 = v1 / v2 · t1. Und so weiter: Jedes Mal, wenn Achilles den aktuellen Rückstand wettgemacht hat, ist die Schildkröte ein kleines Stückchen weiter gekrochen. Und insgesamt summiert sich die Zeit, die er braucht, um das Tier einzuholen, nach folgender Formel:

Es ist eine unendliche Reihe, und Zenon behauptete, dass Achilles deswegen auch unendlich lange brauchen würde, um die Schildkröte einzuholen. Das ist tatsächlich paradox und ein offensichtlicher Trugschluss. Man muss das Ganze nicht einmal in der Realität testen, um festzustellen, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Natürlich würde Achilles die Schildkröte überholen – und das war auch Zenon klar. Er machte sein Argument nicht, um ernsthaft zu beweisen, dass das Tier uneinholbar war.

Die Natur der Bewegung

In einer anderen Paradoxie zeigte Zenon mit ähnlichen Mitteln, dass ein Pfeil, der von einem Bogen abgeschossen wird, sich nicht bewegen könne. Denn der Pfeil sei ja zu jedem Zeitpunkt an einem bestimmten Ort und müsse dort in Ruhe sein, weil er sich ansonsten ja an einem anderen Ort befände. Oder in Zenons Worten: »Das Bewegte bewegt sich weder in dem Raume, in dem es ist, noch in dem Raume, in dem es nicht ist.«

Auch hier war Zenon mit Sicherheit bewusst, dass diese Aussage der beobachtbaren Realität widersprach, denn Pfeile fliegen ja deutlich sichtbar und bewegt durch die Luft. Ihm ging es bei seinen Paradoxien um eine grundlegende philosophische Debatte. Vermutlich wollte er die Ansichten seines Lehrers Parmenides verteidigen, der behauptete, es könne kein Werden und Vergehen geben und alles würde einfach nur existieren. Seine Gegner gingen von der Realität der Veränderung in der Welt aus, und Zenon konstruierte seine Paradoxien, um zu zeigen, dass auch diese Ansicht zu Widersprüchen führt.

Heute wissen wir natürlich besser Bescheid. Vor allem wissen wir, dass eine unendlich lange Reihe von aufzusummierenden Zahlen nicht zwingend ein unendlich großes Resultat haben muss. Weder ist die Strecke unendlich lang, die Achilles zurücklegen muss, noch braucht er dafür unendlich lange. Da v1 / v2 kleiner als 1 ist, konvergiert die Reihe in der Formel zu einem konstanten Wert. Und wendet man die heute bekannten entsprechenden Rechenregeln an, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass Achilles die Schildkröte nach t = s / (v2 - v1) einholt.

Bei meinem Silvesterlauf ist es mir aber bis zum Ziel nicht gelungen, meinen Konkurrenten einzuholen. Wofür in dem Fall aber keine Paradoxie verantwortlich war – mein Gegner war einfach schneller als ich.

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