Direkt zum Inhalt

Lobes Digitalfabrik: Die Verbrechersuchmaschine

"Rudimentär" ist die Technik, die Ermittlern bei der Suche nach verdächtigen Mustern hilft. Jetzt soll ihnen die KI unter die Arme greifen. Das klingt durchaus viel versprechend.
Kommissar KI

Ein Kapitalverbrechen stellt die Polizei jedes Mal vor ein neues Rätsel. Wer ist der Täter? Was könnte ein Motiv sein? Gibt es mögliche Hintermänner? Wer hat die Tat beobachtet und könnte als Zeuge in Frage kommen? In kriminalistischer Kleinstarbeit müssen die Fahnder verschiedene Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Selbst mit hohem Personalaufwand und dem Einsatz von Profilern mag dies nicht immer gelingen. Die Polizei in Großbritannien setzt darum nun auf ein neues Werkzeug: künstliche Intelligenz.

Im Rahmen eines Pilotprojekts an der Middlesex University London soll ein Computersystem mögliche Hypothesen bilden, wer wann warum eine Straftat begangen haben könnte, und die Ermittler so auf die richtige Spur bringen. Die Software scannt Millionen polizeilicher Aufzeichnungen wie Zeugenaussagen, Bilder, Videoaufnahmen, um daraus mögliche Verbindungen herzustellen. Das maschinell lernende System soll etwa anhand vorgegebener Parameter Patronenhülsen am Tatort identifizieren – Indizien, die Ermittler womöglich übersehen könnten. An dem EU-weiten Projekt VALCRI, das von der Europäischen Union gefördert wird, sind neben den Koordinatoren der Middlesex University unter anderen die Universität Konstanz, das Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie in Ilmenau sowie das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD) beteiligt.

Das System operiert vor allem mit der Identifizierung ähnlicher Muster. Wenn ein Fall auf dem Schreibtisch eines Kriminalbeamten landet, sucht er erst nach vergleichbaren Fällen. Gab es bereits Raubüberfälle auf Banken in der Gegend? Wurden junge Mädchen Opfer eines Sexualdelikts? "Ein erfahrener Ermittler braucht 73 einzelne Suchen, um die nötigen Informationen zusammenzuhaben, bevor er dies manuell in eine einfach verwertbare Form bekommt", sagte Neesha Kodagoda, Projektmitarbeiterin an der Middlesex University, dem "New Scientist". "VALCRI kann das mit einem einzigen Klick." Wenn zum Beispiel drei Zeugen unabhängig voneinander eine abweichende Personenbeschreibung abgeben, könnte das Computersystem aus den Zeugenaussagen ein Profil erstellen und mit Hilfe eines Gesichtserkennungssystems herausfinden, dass womöglich dieselbe Person gemeint war. Das erspart den Ermittlern Arbeit und Zeit.

Bisher braucht ein erfahrener Ermittler im Schnitt 73 manuelle Suchanfragen

Das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz schreibt: "Die Arbeit von Kriminalanalysten bei der Polizei ist heutzutage davon geprägt, dass sie mit Hilfe einer rudimentären technischen Ausstattung eine Vielzahl von Informationen aus Anzeigen oder anderen Verbrechensberichten verarbeiten und auswerten müssen." Das Projekt ziele darauf ab, "komplexe Verbrechensnetzwerke aufzudecken und zu verstehen und Ähnlichkeiten im Modus Operandi zu erkennen". Ermöglichen sollen "das verschiedene Technologien und Programme zur Datenvisualisierung und -analyse", die die Daten effizienter verarbeiten helfen und die Analysten technisch unterstützen.

Die Methode ist vergleichbar mit dem Predictive Policing, bei dem Computerprogramme in vergangenen (Einbruchs-)Delikten Muster erkennen und daraus Wahrscheinlichkeiten für künftige Einbrüche ableiten. Der ein oder andere mag sich an den Hollywoodfilm "Minority Report" erinnert fühlen, doch damit hat die vorausschauende Polizeiarbeit, wie sie von Ermittlern genannt wird, wenig zu tun, es geht hier um knallharte Statistik. Die Software, die inzwischen in einigen Landeskriminalämtern zum Einsatz kommt, führte zum Teil zu einer signifikanten Reduktion von Einbruchsdiebstählen im überwachten Gebiet. Wobei nicht sicher ist, ob sich die Kriminalität am Ende einfach nur verlagert hat. Kritiker monieren außerdem, dass das System Vorurteile in die Polizeiarbeit einfließen lässt. In welchem Ausmaß, ist schwer herauszufinden, denn die Algorithmen dahinter sind oftmals nicht transparent.

Vor einer rassistischen Verzerrung der Datensätze ist auch VALCRI nicht gefeit. Jedes System ist nur so gut wie seine Daten. Wenn das System überdurchschnittlich viele Daten ethnischer Minderheiten enthält, die – je nach Kriminalstatistik – im Durchschnitt mehr Verbrechen begehen als der Rest der Bevölkerung, haben diese auch ein höheres Risiko, verdächtigt zu werden. Allein, wenn man in den Archiven der Polizei häufig liest, der Täter habe eine "südländische Erscheinung", liegt das weniger an der Verzerrung der (Such-)Maschine als an unseren eigenen, grob gerasterten Typisierungen.

Der amerikanische Kriminologe Peter Scharf, der an der Louisiana State University lehrt, fordert eine bessere Auswertung der Methodik. "Die Tatsache, dass in Los Angeles oder New York die Kriminalitätsrate nach der Anwendung einer solchen Technik sinkt, heißt nicht, dass die Technik auch den Rückgang verursacht hat. Denn es ist schwierig, die Einflussfaktoren zu isolieren." Bei den derzeitigen Systemen handle es sich noch mehr um Expertensysteme als um eine reine KI, die aus Daten lerne, so Scharf. Um den Nutzen der Technik zu messen, bräuchte es bei der Evaluation bestimmte Qualitätsmetriken wie die Trefferrate beim Predictive Policing. Richtig eingesetzt, könnte der KI-Detektiv den Ermittlern bei der Spurensuche aber wertvolle Dienste leisten.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.