Freistetters Formelwelt: Das bizarre Kuppel-Paradox
Im vierten Semester meines Studiums habe ich eine Vorlesung über »Deterministisches Chaos« besucht. Nur ein einziges Mal – der Dozent war so schlecht, dass ich mir das nicht noch einmal antun wollte. Aber mein Interesse an dem Thema war geweckt, und die Beschäftigung mit der Chaostheorie wurde zum Zentrum meiner weiteren wissenschaftlichen Arbeit.
»Chaos« und »Determinismus« scheinen einander zu widersprechen. Tatsächlich tun sie das nicht, denn das wissenschaftliche Chaos ist ein klar definierter Vorgang. Vereinfacht gesagt geht es darum, dass bestimmte Systeme so komplex sein können, dass schon winzigste Änderungen am Anfangszustand nach und nach zu beliebig großen Abweichungen führen können. Selbst wenn man die physikalisch-mathematischen Gesetze exakt kennt, ist eine ebenso exakte Vorhersage über die Zukunft nicht mehr möglich.
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Ein Beispiel dafür ist ein Spielwürfel: Sein Fall lässt sich zumindest prinzipiell exakt durch entsprechende Gleichungen beschreiben. Die Lösung der Gleichungen ist jedoch nicht mehr exakt möglich, da zu viele Phänomene einander beeinflussen. Gleiches gilt für die Bewegung der Himmelskörper. Sie sind deterministisch, aber unter Umständen dennoch chaotisch.
Das Problem des Determinismus steht auch im Zentrum eines Gedankenexperiments von John Norton. Der australische Wissenschaftsphilosoph hat folgende Gleichung aufgestellt:
Damit wird eine radialsymmetrische Kuppel beschrieben, wobei r der radiale Abstand von ihrer Spitze ist – gemessen entlang der Oberfläche – und h der vertikale Abstand zur Spitze. g ist die Schwerebeschleunigung des Gravitationsfelds. Nun wird eine ideale, sich reibungsfrei bewegende punktförmige Masse exakt auf der Spitze positioniert. Sie befindet sich dort in Ruhe, und die Frage lautet: Was passiert mit ihr im Lauf der Zeit?
Paradoxer Determinismus
Norton hat die Form der Kuppel extra so entworfen, dass die Bewegungsgleichung an der Spitze nicht eindeutig gelöst werden kann. Neben der trivialen und intuitiven Lösung – die Masse bleibt für alle Zeiten in Ruhe an ihrem Ausgangspunkt – lässt sich hier auch eine zweite Lösung finden. Die besagt, dass die Kugel bis zu einem Zeitpunkt T in Ruhe verharrt, danach aber die Kuppel hinabrollt.
Rein mathematisch ist das alles korrekt. Das Problem liegt in der Interpretation der Lösung. In der Quantenmechanik sind wir die fundamentale Unbestimmtheit der Phänomene schon gewohnt. Dinge passieren dort – zumindest nach der vorherrschenden Deutung – tatsächlich spontan und zufällig, ohne dass irgendwelche »verborgenen Variablen« als Ursache herhalten könnten. Nortons Kuppel ist aber ein Problem der klassischen, newtonschen Mechanik. Und die sollte eigentlich völlig deterministisch sein. Trotzdem zeigt die mathematische Lösung eine Bewegung, die mit Newtons Mechanik vereinbar ist, aber kein auslösendes Moment hat.
Seit John Norton dieses Paradox im Jahr 2003 vorgestellt hat, wird über die Interpretation gestritten. Am Ende darf man auch hier die Mathematik nicht mit der Realität verwechseln. Eine echte Kugel auf einer echten Kuppel würde früher oder später auf jeden Fall hinabrollen, und man könnte immer eine physikalische Ursache dafür finden. Und es ist eigentlich auch nicht überraschend, dass man Paradoxien in Newtons Mechanik finden kann. Immerhin wissen wir heute, dass sie nur eine Näherung an die Quantenmechanik beziehungsweise die Relativitätstheorie ist.
Philosophisch ist es durchaus spannend, über die Themen wie Determinismus und freien Willen zu spekulieren. In der Realität unseres Alltags ist es jedoch meistens irrelevant, ob etwas durch »echten« Zufall passiert ist oder nur auf Grund einer Kausalkette, die wir nicht mehr entschlüsseln können. So oder so: Was auch immer mich dazu gebracht hat, diese Kolumne zu schreiben – ich bin sehr froh darüber.
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