Freistetters Formelwelt: Das Geheimnis des Haversin
Trigonometrie ist der Name der mathematischen Disziplin, in der man die Beziehungen zwischen den Seiten und den Winkeln eines Dreiecks untersucht. Das klingt ziemlich einfach, als wäre man schnell damit fertig. Schließlich hat ein Dreieck nur drei Seiten, die zusammen drei Winkel aufspannen.
Doch man kann daraus allerlei neue Strukturen bilden: Man kann Winkel halbieren, Kreise um oder in das Dreieck zeichnen, aus den Seiten Quadrate bilden, und so weiter. Außerdem lässt sich das Konzept des Dreiecks auch abstrakter fassen, indem man nicht nur klassische geometrische Figuren auf einer ebenen Fläche betrachtet, sondern beispielsweise auch Dreiecke auf gekrümmten Flächen oder in noch abstrakteren Räumen.
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In jedem Fall kommt man in der Trigonometrie nicht ohne die trigonometrischen Funktionen aus, wie man an dieser Formel sehen kann:
Dass »cos« für die Kosinusfunktion steht, lernt man schon in der Schule. Sinus, Kosinus und Tangens sind die fundamentalen Winkelfunktionen. Der Sinus eines Winkels berechnet sich aus dem Verhältnis der Gegenkathete (also der dem Winkel gegenüberliegenden Seite) zu Hypotenuse in einem rechtwinkligen Dreieck. Der Kosinus wird analog dazu aus dem Verhältnis von Ankathete zu Hypotenuse gebildet und der Tangens entspricht dem Quotienten aus Sinus und Kosinus. In der obigen Formel taucht aber eine Funktion mit der Bezeichnung »haversin« auf. Auch das ist eine trigonometrische Funktion, wenn auch eine, die mittlerweile kaum noch verwendet wird.
Neben den altbekannten Sinus- und Kosinusfunktionen gibt es noch »Sinus versus« und »Kosinus versus«. Erster, der auch als »Versinus« oder »vers« abgekürzt wird, stellt die Differenz des Kosinus zu 1 dar: vers(α) = 1−cos(α) (entsprechend ist der Kosinus versus die Differenz des Sinus zu 1). Außerdem hat es sich als nützlich herausgestellt, die Hälfte des Versinus als eigene Funktion zu definieren: Dieser halbe Versinus wird als »haversin« abgekürzt und liefert die obige »Haversin-Formel«.
Eine Hilfe für die Seefahrt
Man kann sie verwenden, um die kürzeste Distanz zwischen zwei Punkten auf einer Kugel zu berechnen, wenn diese Distanz entlang der Kugeloberfläche gemessen und die Position beider Punkte durch Breitengrade φ und Längengrade λ angegeben wird. Bei zwei Orten auf der Erdoberfläche muss man beispielsweise nur die jeweiligen Koordinaten in die Formel einsetzen und erhält daraus den halben Versinus des Winkels θ: das Verhältnis des Abstands beider Orte entlang eines Großkreises auf der Erdoberfläche zum Erdradius. Nun muss man die Winkelfunktion nur noch invertieren und erhält mit dem bekannten Wert des Erdradius den Abstand der beiden Positionen.
So eine Formel ist vor allem in der Navigation nützlich. Das Ergebnis ist dann zwar nicht ganz exakt, da die Gleichung voraussetzt, dass die Erde eine perfekte Kugel ist. Für die Kursbestimmung bei der Seefahrt war das früher aber absolut ausreichend. Natürlich könnte man die Distanz auch durch klassische Winkelfunktionen bestimmen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein gar nicht so einfach war, eine Winkelfunktion (schnell) zu berechnen. Es gab keine Taschenrechner und händische Berechnungen waren langwierig.
Für diese Fälle gab es lange Tabellen mit vorab kalkulierten Werten, in denen man ein Ergebnis nur noch nachschlagen musste. Deshalb suchte man nach Formeln, die so aufgebaut sind, dass man in den dicken Tabellenwerken möglichst wenig nachschlagen musste. Die Haversin-Formel ist eine davon. Weil es heutzutage nicht mehr nötig ist, die Werte von Winkelfunktionen aus Tabellen abzulesen, benötigen wir diese speziellen Funktionen nicht mehr so oft. GPS, Taschenrechner und Navigationssoftware haben sie obsolet gemacht.
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