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Freistetters Formelwelt: Das große geochemische Experiment

Der Ozean nimmt Kohlendioxid auf, so viel ist klar. Aber wie viel? Die Antwort ist komplex: Zum Glück gibt es für alles eine Formel, erklärt unser Kolumnist Florian Freistetter.
Eine Welle bricht sich im Ozean

»Die Menschheit führt gerade ein großes geochemisches Experiment durch, das weder in der Vergangenheit stattfinden konnte noch in der Zukunft wiederholt werden kann. In nur wenigen Jahrhunderten geben wir der Atmosphäre und den Ozeanen all den organischen Kohlenstoff zurück, der für hunderte Millionen Jahre im Gestein der Erde gespeichert war«.

Das schrieben der Ozeanforscher Roger Revelle und der Physiker Hans Suess in einer 1957 veröffentlichten Arbeit, die sich mit dem Austausch von Kohlendioxid zwischen der Atmosphäre und dem Ozean beschäftigt hat. Schon damals wusste man, dass der immer größer werdende Verbrauch von fossilen Brennstoffen Auswirkungen auf die Welt haben wird. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts berechnete der schwedische Chemiker Svante Arrhenius als Erster quantitativ, dass bestimmte Verbindungen wie Kohlendioxid als Treibhausgas wirken und zu einer Erwärmung der Erde führen können.

Das Ausmaß dieses Effekts war in den 1950er Jahren aber noch nicht völlig verstanden. Vor allem der von Revelle und Suess erforschte Einfluss der Ozeane war unbekannt. Ihre Arbeit resultierte in einer Formel für eine heute »Revelle-Faktor« genannte Größe:

Vereinfacht gesagt beschreibt dieser Faktor das Verhältnis der relativen Veränderung des im Meerwasser gelösten Kohlendioxids zur relativen Änderung des insgesamt dort gelösten Kohlenstoffes (DIC oder »dissolved inorganic carbon«). Das Ausmaß, in dem gasförmiges Kohlendioxid aus der Atmosphäre im Meerwasser gespeichert werden kann, hängt aus chemischen Gründen unter anderem davon ab, wie viele Kohlenstoffverbindungen dort vorhanden sind (darüber hinaus auch noch von der Temperatur und dem Vermögen des Wassers, Säuren zu binden). Oder anders gesagt: Je niedriger der Revelle-Faktor ist, desto besser können die Ozeane als Speicher für Kohlendioxid wirken.

Die Meere der Erde sind eine wichtige Kohlenstoffsenke. Das ist prinzipiell sehr gut, denn je weniger CO2 in der Luft vorhanden ist, desto schwächer fällt der Treibhauseffekt aus. Setzen wir Kohlendioxid in der Atmosphäre frei, wird ein Teil davon von den Meeren aufgenommen. Dort reagiert es mit vorhandenen im Wasser gelösten Stoffen zu neuen chemischen Verbindungen. Wird aber zu viel CO2 aufgenommen, dann fehlen die nötigen Stoffe, um neu dazukommendes Kohlendioxid umzuwandeln. Das verringert das Ausmaß, in dem das Wasser weiteres CO2 aus der Atmosphäre entfernen kann.

Bis jetzt hat der Ozean ungefähr 30 Prozent des seit der Industrialisierung von uns Menschen freigesetzten Kohlendioxids aufgenommen. Die Meere werden das auch weiterhin tun. Das schafft jedoch Probleme: Die zunehmende Versauerung der Meere schädigt all die Lebewesen, deren Skelett aus Kalk besteht. Das gilt insbesondere für die Korallen, aber ebenso für Muscheln und Algen. Die mikroskopisch kleinen Kalkalgen können ohne ihre schützende Schale nicht überleben. Sie sind jedoch ein wichtiger Bestandteil des Planktons, das wiederum die Basis der Nahrungskette in den Meeren darstellt. Die Aufnahme von CO2 durch die Meere hilft uns zwar ein wenig dabei, den Treibhauseffekt zu verlangsamen. Gleichzeitig wird dadurch das marine Ökosystem schwer gestört. Viele Regionen der Meere sind sowieso schon überfischt; wenn die Versauerung nun noch zu einem Artensterben führen sollte, wird das Konsequenzen für unsere Nahrungsversorgung haben.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

1957 schrieben Revelle und Suess in ihrer Arbeit: »Es ist daher von enormer Bedeutung, dass wir versuchen, zu bestimmen, wie Kohlendioxid zwischen der Atmosphäre, den Meeren, der Biosphäre und der Erdkruste ausgetauscht wird«. Mittlerweile haben wir diese enorme Bedeutung erkannt und wissen, welchen Einfluss wir mit unseren Aktivitäten auf das Klima der Erde und den Zustand der Meere haben. Die Konsequenzen daraus haben wir leider noch nicht gezogen. Die Klimakrise nimmt ungebremst ihren Lauf.

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